Stefan Hertmans – Unverfroren herumspielen am Erhabenen: die “Zelfportretten van de dood” von Peter Verhelst (Selbstbildnisse des Todes)
‘Eines Tages erwachst du,
Du lebst in einem Hologramm.
Damit hast du immer gerechnet’.
Peter Verhelst, Verhemelte
In den schnell aufeinanderfolgenden Gedichtbänden von Peter Verhelst fällt eine große, fast zwanghafte Ähnlichkeit im Inhalt auf: Immer wieder kippen Körper, Bildfragmente, Intimitäten, die keine (mehr) sind, Spiegeleffekte vager Gliedmaßen übereinander, endlos, beinahe monoton, vage sadomasochistisch, stolz und provozierend, dann wieder fast bitter-zärtlich, mit einem großen Gefühl für kühlen, souveränen Stil, kombiniert mit einem passionierten Blick.
Wer sie jedoch auf ihre spezifischen Themen hin untersucht, sieht etwas ganz anderes: zum Beispiel eine beinahe deskriptiv angelegte Sammlung rund um vier Gemälde von Francis Bacon (Obsidiaan, 1987); Gedichte über Gemälde expressionistischer Maler (unter anderem Kokoschka, Kirchner, Munch, Rouault, Dix und Rops) oder Gedichte, die sich auf griechische Mythen beziehen (Otto, 1989); ein Band, der erkennbare biographische Elemente aus dem Leben Baudelaires beinhaltet (Witte bloemen, 1991); ein Gedichtband, in dem deutlich erkennbar Werke des belgischen bildenden Künstlers Thierry De Cordier auftauchen, sogar hin und wieder buchstäblich beschrieben werden (De Boom N, 1994); oder konkrete oder fast narrative Anspielungen auf das Werk Jan Fabres (Spijkerman in hel, unveröffentlicht). Der letzte Gedichtband, Verhemelte (1996) beinhaltet einige deutliche Anspielungen auf Rob Scholte und den berüchtigten Anschlag auf dessen Leben, mit einem auf Breughel verweisenden, einigermaßen sarkastischen Ikarus-Finale: zwei Beine in der Luft…
In Bänden wie Angel (1990) und Master (1992) können dann wieder viele Elemente angegeben werden, die als filmisch oder ’televisuell’ erkennbar sind: Fassbinder (Querelle de Brest), Jean Genet, Klaus Nomi, sogar Malewitsch oder ein Motorcycle Boy (vermutlich aus Rumble fish), Matador (der Film von Pedro Almodovar), eine Figur wie Gilles de Ray, – mise-en-scènes, in Bilder umgesetzte Rätsel, in denen Leiber einander nach dem Leben trachten.
Die hier aufgezählte Reihe könnte den Eindruck erwecken, daß Verhelst ein typisch “postmoderner” Dichter ist, der nur ein wenig mit heutigen Themen spielt. Ich glaube aber, daß die Sache völlig anders liegt: Meiner Meinung nach ist diese Poesie ganz und gar nicht auf das Hineinnehmen von Themen aus, sondern auf etwas, das beim ersten Blick, bei diesem oberflächlichen Durchblättern, hängengeblieben war: eine unaufhörliche Obsession, Gegenstände, Rituale und Träume auf eine unglaublich absolutistische Art heraufzubeschwören.
Es ist eigentlich eine Art Poesie der Apokalypse, in der die heraufbeschworenen Visionen beinahe greifbare Wirklichkeit werden, und die Wirklichkeit unserer Erfahrungen wegeilt wie in einer anderen, vergessenen Vision. Vor allem scheint diese Poesie dauernd auf der Suche nach einer Art Schockeffekt des Erhabenen zu sein.
Gedichte von Verhelst lesen läßt mich mehr als einmal an das Hören der Musik John Zorns (Naked city zum Beispiel) denken: ungestüm, unmittelbar anwesend, chaotisch und strukturiert zugleich, auf Intensität aus, unverfroren auf der Suche nach einer Art Erhabenheit körperlicher Gewalt, eine Erhabenheit, die die Grenzen zwischen dem Virtuellen und Reellen verschwimmen läßt.
Von diesem Gesichtspunkt aus schmelzen die Gedichtbände wieder aneinander zu einem beunruhigenden Amalgam. So kann der Leser feststellen, daß Baudelaire zum Beispiel, am Ende von Witte bloemen, von Verhelst in einem Stuhl exekutiert wird, wodurch er schon sehr dem berüchtigten Papst Francis Bacons gleicht: “Ein Käfig, in dem ein Papst sitzt und schreit/mit kribbelndem Fleisch in seiner Kehle:/so sitzt du dabei auf deinem Stuhl”.
Der imaginäre Raum in diesen Gedichten wird durch solche Eingriffe fließend und unbestimmbar. Alles wird beherrscht von einem fast paranoiden Zusammenhang, der immer nur das eine suggeriert: Wohnzimmer werden Folterkammern, das Schlafzimmer ein Observatorium für Liebe aber eben so sehr für desintegrierende Körperteile; Kunst, Erinnerung und unheilsverkündende Natur tauchen traumhaft in bösartig scheinenden Ritualen auf. Versuche, in dieser selbstgeschaffenen Bedrohung scharfsichtig zu überleben, führen meist zu nichts.
Der Punkt, an dem die Unbesprechlichkeit dieser oft düsteren und provozierenden Poesie beginnt, ist auch der Punkt, an dem sie eindeutigen Erklärungen entschlüpft. Genau dort beginnt auch ihre tatsächliche Wirkung, der Unterschied zu anderen Formen der Dichtkunst oder des Sprachgebrauchs, wodurch sie spezifisch etwas anderes geworden ist, das sich eigentlich schwer benennen läßt. Denn daß wir nicht schon wieder vor einem talentierten jungen Dichter stehen, der mit einem Auge auf die Kritik und mit dem anderen auf die kommende Anthologie dem Publikum höflich Gedichte anbietet, sondern eher vor jemandem, der einen gleichsam mit der Peitsche bereit in der Hand anschaut, das ist womöglich das erste, das auffällt. Auszugehen von dieser Provokation ist dann auch der erste Schritt, um in dieses Bollwerk beunruhigender Spiegelungen einzudringen.
Wie soll man das “andere” in dieser Poesie dann benennen? Das, was verwirrt, vor Rätsel stellt, Unbehagen verursacht, Irritation oder Widerwillen, das aber genau so gut Leidenschaft hervorruft, Faszination, die Gefahr, daß man nicht mehr davon loskommt?
‘Schönheit ist die
erhabene Gewalt allein.’ Die sich dann auch vollzieht.
(Motorcycle Boy)
Ich will erst kurz auf diese Sehnsucht nach dem Erhabenen eingehen, die möglicherweise typischer für die Neunziger Jahre ist als wir im Augenblick selbst begreifen.
In der Kritik der Urteilskraft sagt Kant, daß die Wirkung des Erhabenen an dem katastrophalen Punkt beginnt, an dem sich die Unlust in Lust verwandelt. Dem französischen Philosophen Lyotard zufolge, der versucht, diese Sicht mit dem berühmten Text The sublime is now des amerikanischen Malers Barnett Newman zu verbinden, ist das Auf-die-Suche-gehen nach dem Absoluten Jetzt der erhabenen Erfahrung kennzeichnend für die gesamte Avantgardekunst – und damit meint Lyotard nicht so sehr die historische Bewegung, sondern die sich ewig verschiebenden Normen der Kunst wie sie auch heute noch auftauchen, dasjenige also, wodurch Kunst keine Kultur ist, sondern tatsächlich Kunst, also oft regelrecht das Gegenteil, eventuell sogar der Feind der Kultur: Etwas, das außerhalb der gangbaren Normen der Gesellschaft entsteht und doch intensiv darauf verweist, darüber spricht und sie unaufhörlich provoziert indem es zum Extremen neigt (das ist im heutigen Theater und in der Videokunst deutlicher als zum Beispiel in der heutigen Literatur). Erhaben, im gebräuchlicheren Sinn des Wortes, ist die Sprache Verhelsts ganz gewiß, und daß sie die Grenzen eben dieser Radikalität der Ästhetik abtastet, wird immer deutlicher in dem Maße, wie der suggerierte Skandal dieser fremden, fast virtuellen Gewalt in seinen Gedichtbänden klarer zum Ausdruck kommt, mit einem vorläufigen Höhepunkt in seinem letzten Band Verhemelte.
“Sublimation”, sagt Slavoj Zizek in Looking awry, “hat nichts mit Desexualität zu tun, aber desto mehr mit dem Tod: Die Anziehungskraft eines erhabenen Bildes bedeutet zugleich die Ankündigung einer fatalen Dimension”.
Bereits der windige Wiener Sängerknab aus Master bekennt:
Ich wurde getauft mit dem Gedanken an Reinheit und was hat es
mir
eingebracht? Außer dem Verlangen nach Reinheit? Und nach
Tod?
Es ist vielleicht nicht unwichtig, vorab festzuhalten, daß Verhelst oft Gedichte schreibt, die auf den ersten Blick starken Anschluß an die früheren ‘experimentellen’ Dichter zu finden scheinen, wie der in Flandern noch immer einflußreiche Hugues Pernath (auch Dirk van Bastelaere hat auf die Wichtigkeit dieses Dichters für sein eigenes Werk hingewiesen). Aber vielleicht müssen wir diesen Begriff – das “Experimentelle”- ein für allemal als etwas Unsinniges verwerfen, denn jeder Dichter, der etwas zu erzählen hat, kann natürlich nichts anderes tun als experimentieren, das heißt: Einfach er selbst sein und nicht eine Strohpuppe zu werden, gefüllt mit vorgekauten, öffentlichen Meinungen darüber, was Kunst ist und was nicht. Ist eine abweichende Form nicht einfach eine logische Widerspiegelung jener Position, in der sich ein ‘problematischer’ Sprecher notgedrungen – charakterlich, psychologisch oder traumatisch – befindet? Vielleicht sogar ein ‘gestörter’ Sprecher, der aus dieser Störung ein Kunstwerk machen möchte? Beginnt die Wirkung des Erhabenen nicht gerade in und durch diese Form der zielbewußt gelenkten Gestörtheit?
Zweitens würde es für die verwirrende und erfrischende Wirkung, die von Verhelsts Poesie ausgeht, sehr ungünstig sein, sie in irgendeiner historischen Strömung zu situieren. Sie würde dann dem Chaos des Erhabenen, des Jetzt, des unmittelbaren Geschehens, das Lyotard als charakteristisch für das Erhabene erachtet, entzogen werden. Etikettierung entkräftet meistens die direkte Wirkung des Neuen, neutralisiert das Lesen und droht jede persönliche Frage überflüssig zu machen. Denn mit der Bemerkung, daß Verhelst ein experimentell ausgerichteter Sprachvirtuose ist, hat man herzlich wenig über diese Poesie gesagt. Es fällt inzwischen jedoch auf, daß alles, was über Verhelsts Poesie gesagt wird, geschickt um den heißen Brei herum geredet ist.
Es ist natürlich nicht einfach. Wie kann man analytisch oder kritisch über etwas sprechen, ohne die Erfahrung des Unbehaglichen und des Erhabenen zu töten, worum es ihm zu gehen scheint?
Glaube nie an ein Konzept, das du begreifen kannst.
(Verhemelte).
Ich habe den Eindruck, daß Verhelsts Poesie fast wie gebannt auf der Suche nach dieser Erfahrung des Erhabenen ist, daß sie so unumwunden und so unverfroren nach diesem Effekt strebt, damit herumspielt ohne ihn je berühren zu können (denn das ist genau die Eigenschaft des Erhabenen, sagt Lyotard: Sie kommt durchaus im Kunstwerk zum Vorschein, aber ohne daß man sie deuten, fassen, lokalisieren oder festnageln kann): Etwas, wodurch sie fasziniert, verwirrt und auf eine Konfrontation hinsteuert, wobei Phantasie und Einsicht miteinander in Konflikt geraten – Unlust also, die sich zur Lust transformiert durch die Tatsache, daß wir uns des Blickes bewußt werden, mit dem wir das sehen, durch den wir diese systematisch vage gehaltenen Szenen mit inszenieren, mitschuldig werden durch Voyeurismus, gleichsam genau dasjenige vervollständigen, was nie fertig werden kann: Das Rätsel, daß da etwas steht, das unaufhörlich entgleitet und das doch anzieht – in diesem Fall konkret: Ahnungen von einem Skandal, Verletzungen und Überwältigungen, suggerierte Provokationen, wobei jeder Gegenstand zum Folterinstrument werden kann und jede Wunde zu einem vage pulsierenden Juwel aus Fleisch. Und inmitten all dieser Szenen schaut ein unbestimmter Blick zurück, der uns unseren eigenen Platz bewußt macht.
Als flössen Blumen aus meinen Adern:
ein Bukett lodernder Amaryllis. An Schläuchen
-eine Angstpille unter meiner Zunge – träum ich von rotem
Schmerz: (wie der auf mir blüht wie eine schöne Wunde;
Frau mit mondweißem Fleisch in schwarzer Wäsche
und Lackleder, kniet vor mir und beißt) ein Aphrodisiakum.
(Master)
Der Unterschied zu den früheren “Experimentelen” liegt zum Beispiel darin, daß Hermetismus früher immer wieder auf Effekten, die in der existentiellen Sphäre lagen, gegründet war – verschleierte Anspielungen auf eine private Erfahrung, die selbst ‘unaussprechlich’ genannt wurde, zu schmerzlich für Worte oder was auch immer; siehe zum Beispiel die gängige Erklärung für die hermetischen Elemente bei Celan oder Faverey. Davon ist bei Verhelst keine Rede: Alles macht hier den Eindruck, ausschließlich sagen zu wollen, was es sagt, es ist kein schamvoll verborgener Rest zu entdecken, alles steht genauso herausfordernd vollständig da, wie es selber sein will. Es gibt kein verborgenes Hinterland, es läuft nur, was läuft, aber das ist eine ganze Menge. Verhelst tut das ausschließlich mit den Bildern seiner eigenen Sprache.
Mit geschwollenem linken Auge (1)
Eine weiblich gepflügte gläserne Blume
wie sie schiefstehend sprüht, elektrisch blau
auf Zahnfarbe: linkes Auge aus Bejing unter schwarzem
Taschentuch tränend. Es hat etwas, die Fleischtätowierung,
von Tod, nun da sie mit dem abgebrochenen Flaschenhals verschmilzt
wie mit einem auseinanderstehenden Gebiß. Genauso selbstverwundet.
(Master)
Bei genauerer Betrachtung war die frühere experimentelle Poesie oft ‘autonom’: Sie gründete sich auf Effekte, die durch die gehandhabten Sprachstrukturen selbst Form bekamen – die Sprache durfte selbst ein bißchen mitreden und Anregungen geben für Verbindungen, die die Ratio, die Logik oder die poetische Erfahrung nicht mehr wiederfinden konnte. Eine Runde close reading konnte dann nette Lautverbindungen aufzeigen und den Leser weiter im Unklaren lassen, was die tiefere Absicht der Gedichte betraf: Die lag in der Sprache selbst – und fertig war die (“Akademiker”)-Laube.
Weder Hermetismus noch Autonomie bilden die treibende kraft in diesen Gedichten, denn Verhelsts Poesie ist stark referentiell, sie schleppt ganze Bilderfrachten mit, die wir aus unserer aktuellen Welt und deren Reservoir an filmischen Bildern kennen. Außerdem ist, wie schon gesagt, ein großer Teil dieser Poesie thematisch aufgefaßt worden, liegen ihr andere Kunstwerke zugrunde oder verweist sie auf Elemente, die wir sehr wohl einordnen können. Die Unfaßbarkeit liegt woanders. Was hier geschieht, ist in dem Sinn neu, daß die in Szene gesetzten Ereignisse selbst dauernd entkommen, untertauchen, und dies weder als Effekt eines ‘experimentellen’ Sprachgebrauches noch als Effekt autonomischer Verschleierung, sondern durch die Tatsache, daß die Ereignisse zu Spiegelbildern von Traumerfahrungen werden, die selbst fast keine weitere Erklärung vertragen, nur Lektüre. Die suggerierten Ereignisse werden selbst sofort zu Erfahrung in den Gedichten, sie stehen da, und man kann beinahe nichts damit anfangen; man kann sie höchstens noch einmal lesen, so wie man an einen Traum oder Alptraum zurückdenken kann, mehr aber nicht. Jede Paraphrase gibt einem das Gefühl, daß man alles verloren hat, worum es eigentlich ging. Denn es ging um die Bewegung selbst, um die unaufhaltsame Dynamik, worin alles durcheinander wirbelt, auf einen zukommt, einen mit Einkerbungen bedroht, geschundenen Körperteilen, Bacon-artigen Gestalten, Ausstülpungen, ein unbezähmbarer Körper, der sadomasochistisch und kühl herrschend zugleich sein will, eine gespielte Souveränität und eine beklemmende Unterwerfung zugleich.
*
Woher kommt dann die merkwürdige Behutsamkeit, ja selbst das Wohlwollen für eine Form der Poesie, die allen Rezensenten dieses Sprachgebiets normalerweise gegen den Strich gehen muß? Warum sind die meisten Rezensenten, anders ausgedrückt, so höflich zu dieser äußerst radikalen Poesie und beginnen nicht sofort über Düsterkeit, Elitarismus, Radikalismus und alle diese leidigen Dinge zu sprechen?
Oder warum nimmt zum Beispiel Gerrit Komrij in seine letzte Anthologie fünf Gedichte von einem Dichter auf, der alles tut, was dieser ‘rebellische Traditionalist’ aus seiner mondänen Rederijker(1)-Seele heraus zutiefst verabscheuen müßte?
Das hat doch wohl zweifellos mit der seltsamen Thematik zu tun, die so schamlos zeitgenössisch ist, und mit der Tatsache, daß die ‘experimentell’ wirkenden Formen bei Verhelst auf kinky Sex, Trash TV, Videokunst, filmische Radikalität verweisen – auf Dinge, die niemand außer acht lassen darf, der als zeitgenössisch gelten will. Das Radikale wird Verhelst gleichsam vergeben, weil der Kontext unverkennbar zeitgenössisch und nicht-literarisch ist, die virtuelle Realität der Grenzüberschreitung und der Wahnbilder; man assoziiert diese Gedicht nicht mit anderen Gedichten, sondern mit anderen Medien und den dort aufgebauten Erfahrungen. Das macht vorsichtig und abwartend, denn es geht um etwas, das uns allen auf eine bestimmte Weise entwischt, wie es das auch bei David Lynch, Emir Kusturica, Peter Greenaway oder Quentin Tarrantino tut; es geht um die erhabene Wirkung von Bildern, die sich nicht weg erklären lassen, eine ‘virtuelle’ Erfahrung, die paradoxerweise mehr im Gedächtnis haften bleibt als das, was wir die klassische Erfahrung zu nennen pflegen. (Auffallend genug steht diese Wirkung des Erhabenen oder Sublimen auch bei den Künstlern im Mittelpunkt, die thematisch in den Gedichten Verhelsts auftauchen: De Cordier, Fabre, Bacon, Baudelaire).
Diese ‘virtuelle Erfahrung’ verschafft Verhelst als Regisseur seiner eigenen Obsessionen ungemein viel Atemraum und Bewegungsfreiheit: Er scheint nicht an der Versmacherei, der Literatur, ihren Normen und Werten, interessiert zu sein. Er schreibt, als wolle er die Halluzinationen in seinem Kopf auf den Monitor bekommen, egal wie. Um es mit den Worten Baudrillards auszudrücken, könnte man sagen, daß der Tanz der Trugbilder hier so ironisch auf die Spitze getrieben ist, daß er das Denken über die poetische Wirklichkeitserfahrung zu einer anachronistischen Banalität reduziert.
So messerscharf eine Uniform zu gießen
über diesen Hals, über den Kleiderständer dieser Schultern.
Dieser Uniform zugenickt zu haben. Diesen Dämon von meinem Schwarz
essen lassen, bis ich kniend mich selbst vor dem Spiegel wieder finde
mit einem verschneiten Schirm anstelle meines Kopfes. Gelacht!
Das Haar eines Baumes. Aufleuchtend. Dieser Fussel.
Angst verbreitet sich wie rote Koralle in meinem Arm, vermute ich,
und läßt sich dort leicht verästeln. Im Gegenlicht.
Und du ziehst nur. Als ob etwas Unkontrolliertes zwischen uns
zu beben beginnt. So von jedem Sinn entledigt.
Es macht nichts. Komm her. Aber behalte den Nähfaden im Mund,
als seist du gestorben
bist du schön.
(De Boom N)
Was übrig bleibt, ist die Unausrottbarkeit der heraufbeschworenen Bilder selbst, die unausrottbar und provozierend bleiben, weil sie nicht festgelegt werden können innerhalb einer ordnenden Abhandlung darüber, was gute oder schlechte Poesie ist. Sie können genau so wenig als autobiographische Zeugnisse gelesen werden (obwohl da zweifelsohne Fetzen eigener Erfahrung enthalten sein müssen – aber Fernseh- und Filmbilder sind auch eigene Erfahrungen). Aber wenn es buchstäblich um eigene Erfahrungen gehen sollte, dann müßte Verhelst ohne Zweifel im Gefängnis interviewt werden. Vielleicht, daß man deshalb in der Kritik so vorsichtig bleibt: Intuitiv spürt man, daß Diskussionen über gute und schlechte Poesie naiv sind im Lichte dessen, was hier auf dem Spiel steht, und die Thematik bekommt man so schnell nicht in den Griff. Man gönnt dieser Poesie den Vorteil des Zweifels, so wie man das bei Clips tut, in denen Dinge geschehen, Bilder erscheinen oder Techniken angewandt werden, die man in den großen Publikumsfilmen niemals tolerieren würde. Die Sphäre aus dem Videoclip Where the Wild Roses Grow von Nick Cave and the Bad Seeds zum Beispiel, worin die Technik des schwarzen Zwischenbildes konsistent und besessen eingesetzt wird um die Unbegreiflichkeit der Liebe, die in Mord mündet, spürbar zu machen als einen abgrundtiefen, unauflöslichen Bruch – so etwas in der Art. Obwohl fast jede Zeile dieser Poesie die political correctness des modalen städtischen Progressiven furchtbar provoziert, schweigen die Kritiker über diesen blasphemischen Aspekt.
Man schaut also gewissermaßen ein wenig in die andere Richtung und wartet ab. Irgendwie weiß sogar der moralisch besorgteste Kritiker sehr wohl, daß jeder das Recht hat, sein eigenes Leben mit seinen eigenen Worten zu beschreiben. Richard Rorty würde sagen, daß dies das Kennzeichen der ironischen Emanzipation sei, und er würde dabei auf Coleridge verweisen: “Die allgemeine Aufgabe des Ironikers ist jene, welche Coleridge dem großen und originalen Dichter empfahl: Den Geschmack zu kreieren, von dem aus er beurteilt wird. Aber der Richter, den der Ironiker im Kopf hat, ist er selbst. Er will imstande sein, sein Leben in seinen eigenen Worten zusammenzufassen.” Die “Zusammenfassung des eigenen Lebens” bedeutet hier jedoch keinesfalls, daß es noch um Bilder aus der eigenen existentiellen Erfahrung geht, sondern um Bilder, die gewissermaßen ohne festes Ich-Zentrum angeeignet werden und so zu einer eigenen, selbständigen, nicht nachzuerzählenden Erfahrung werden.
Mit den Gedichten Verhelsts halten Normen, die in Theater und Film noch immer mit dem Etikett “Avantgarde” versehen werden, wieder auf eine Art ihren Einzug in die Poesie, die die literarischen Traditionalisten und die früheren Realisten, aber ebensogut die nostalgischen “Experimentelen”, ein bißchen ratlos machen muß: Sie paßt in keine Schublade, sie handelt nur von dem, was da steht und gleichzeitig handelt sie eben nicht davon, aus dem einfachen und frustrierenden Grund, daß keinen Augenblick lang sicher ist, was da steht oder geschieht. Ja, wir kennen diesen Effekt aus jeder faszinierenden Poesie, aber hier gehen wir über eine Grenze – die der Gewalt – die uns zu einer wieder neuen Form der Behutsamkeit zwingt.
Diese Poesie hat anscheinend nur die Ambition on her own terms zu leben, zu atmen, zu überfallen, auf ihren eigenen radikalen, obsessiven Grundfesten zu existieren. Ihre Mißbilligung der betagten poetischen Traditionen – der Tricks und Techniken, der umsichtig angebrachten Zitate, die den Leser nicht allzu sehr schrecken lassen, sondern ihm das Gefühl geben, daß er dazugehören darf, der elegant gleitenden Verständlichkeit und der ironischen Klarheit, des sauber logischen Zusammenhangs der Fragmente, der ‘historischen Liebe für die Poesie’, kurzum der ganzen heutige Rederijkerei und ihrer Spielchen – die spürbare Mißbilligung dieser modiösen Konventionen, die Verhelsts Poesie verströmt, entstammt dem radikalen Willen, “Nichts” zu sein im “Jetzt” der Gedichte, allein zu sein mit der Welt, die sie schafft – mit ihrer eigenen ironisch inszenierten Souveränität und ihren eigenen Risiken des totalen Mißverständnisses.
Könnte ich singen, zersänge ich alles.
(Angel)
*
Je mehr in Verhelsts Poesie geschieht, desto mehr scheint sie über die Obsession zu schweigen, die sie tatsächlich antreibt; darum erweckt sie den Eindruck, ein sich selbst generierender menschenförmiger Bulldozer zu sein, der Landschaften, Zimmer, Blumen und Körper aufreißt ohne eine Erklärung zu geben (willentlich oder aus Unvermögen). Aus diesem Robocop-Effekt entsteht der unverkennbare Eindruck von Gewalt – nicht sosehr, weil ununterbrochen Gewalt inszeniert wird, sondern weil sie so gewalttätig bestehen will ohne ein näher zu deutendes Ziel. Die Gewalt der Sexualität und des Körpers ist darum die psychoanalytische Gewalt der Sprache über den schreibenden Körper selbst geworden. Radikale, unmittelbare Jetztheit in Bildern, die schon weg sind, wenn man genauer zuschaut.
Doch ist es nicht die Welt, der schwindelt, sondern das Bild, dem schwindelt von einer sogenannten Welt.
(Verhemelte)
Es ist, mit anderen Worten, nicht leicht, etwas Konkretes über eine Poesie zu sagen, die sich vorgenommen zu haben scheint, nur so konkret zu sein wie die Bilder, die da stehen, ohne den frame oder den Rahmen anzugeben, worin sie einen Platz und somit eine feste Bedeutung bekommen könnten (sogar in den thematischen Bänden über Bacon und Baudelaire, oder in den Anspielungen auf De Cordier oder Scholte verweisen die Anspielungen weiter auf etwas Unsagbares da draußen, ein schweigendes Ritual sinnlichen Schreckens, das ungehindert und beinahe grausam weitergeht, ohne sich nur irgendwie um die Referenzen zu kümmern; nichts ist dieser Poesie ferner als sich den Dingen zu unterwerfen, auf die sie verweist).
Sie stellt sich daher auch außerhalb der festen poetologischen Normen dessen, was inzwischen postmoderne Poesie genannt wird, sie ist genau so wenig aus auf starke Regeln, auf Maßarbeit oder existentielle Bekenntnisse, auf das Behagen des literarisch gebildeten Lesers, auf intertextuelle Einkapselungen oder was auch immer, sie schafft zwanghaft ‘ihr eigenes Ding’ und hat keinerlei Ambitionen, klassisch zu werden, sich anzupassen oder einzufügen, ihren Zusammenhang zu verantworten oder dergleichen.
Der Leser wird dadurch in die Einsamkeit seiner eigenen beschränkten Interpretationen gestürzt, ohne Hoffnung, daß jemand anderer als er oder sie selbst ihm oder ihr aus dem Traum helfen kann, während er doch sicher weiß, daß hier so vieles geschieht, das ihn anzieht, fasziniert, ihn weiterlesen läßt und ebensogut abstoßen kann, ermüden, prickeln oder entsetzen. Die Schläue, ja selbst die kritische Intelligenz dieser Poesie, das spürt man sofort, schwimmt teils auf intuitivem Bluff, Gefühl für den richtigen Effekt im richtigen Augenblick, teils auf der rohen Kraft, womit diese Bilder, Fragmente und Situationen auf einen zukommen.
Zorro
Inmitten mexikanischem Gras hatten sie uns erwischt.
(Ihre Stiefel gewetzt.)
Sie hatten nicht unsere Hautfarbe und drangen
in unsere Körper. Kehrten unser Innerstes nach außen.
Hinterließen Streifen in der Form halber Swastiken.
Weiter nichts.
(Master)
Manchmal habe ich das Gefühl, daß Verhelst so viel und so schnell Poesie schreiben muß, weil er das ‘schöne Fach der Poesie’ tief und leidenschaftlich mißbilligt: ein wohl bekannter Grund aus der früheren Avantgarde also, der Grund, warum sich das Neue erzeugen ließ, ohne sich an dem zu stören, was ihm auch immer in den Weg kommen konnte. Für die Verteidiger der früheren, historischen Avantgarde wie T.W.Adorno war das die einzige Chance auf eine tatsächliche Erneuerung des betreffenden Mediums: keinen großen Wert darauf zu legen und zugleich radikal, physisch und existentiell absolut eigensinnig einzutauchen, gegen den Strom. In ihrer radikalen Gegenwartsbezogenheit birgt diese Poesie dann auch einen altmodisch anmutenden Heroismus in sich, das Pathos, um sich in und durch die eigene Zeit von der ganzen literarischen Meinungsbildung zu distanzieren, während es diese auch mimt und inszeniert – ein ambivalentes Pathos, das wir aus der Geschichte von Van Ostaijen, Lautreámont, Rimbaud und dem jungen Gottfried Benn kennen. Vielleicht auch kommt etwas von dieser historisch gewordenen Wirkung dadurch zurück.
Man hatte uns dennoch erzählt, daß diese Art Pathos der Vergangenheit angehörte, daß die Welt ironisch geworden wäre und daher niemals mehr derartige Umwälzungen kennen könne, keine Romantik mehr produzierte, die sich so wild absetzen könnte gegen ein vorangegangenes Paradigma: Wer das noch wolle, setzte sich selbst auf den Präsentierteller durch Hyperventilation, altmodische Pathetik, Paranoia und Mangel an Wirklichkeitssinn! Oder ist es doch das, was – nach den Worten Rortys – ironisch eigentlich bedeuten müßte the rewriting of history on your own terms? Kann man das dann nach dem freundlichen liberalen Rezept dieses Clinton-Philosophen tun oder rollen bei jedem rewriting automatisch doch einige poetische Köpfe?
In jedem Fall wird in so gut wie jedem Vers Verhelsts brutal gegen Körper vorgegangen und geschieht dies nicht mit Körpern, dann geschieht es mit Suggestionen der Sprache selbst.
Die weichen Lippen: Gu-ten-Mor-gen
und du hörst: goût de morgue.
(Verhemelte)
Die Leichenhausszenen in Morgue des jungen Benn waren auf denselben poetischen Effekt (“épater le bourgeois”) aus, aber die Erfahrung darin war natürlich einfacher zu situieren, da sie auf eine empirische Wirklichkeit verwies (Benns traumatische Erlebnisse als junger Arzt) und nicht auf einen virtuellen Effekt von Wörtern oder Bildern, die uns ebenso heftig durcheinander schütteln können, ohne daß es damit mehr auf sich hat, als daß es einfach da steht und verdächtig aber zugleich unentzifferbar bleibt; dieselbe Verdacht erregende vage Erkenntnis und Verwirrung, die uns bei bestimmten nicht ganz erkennbaren Szenen bei Francis Bacon befällt oder bei der sinnlosen Gewalt in einigen Szenen in Pulp Fiction (zum Beispiel der absurde Vorfall im Taxi, wobei der Kopf eines Jungen aus Versehen zerschossen wird und später das ganze Auto saubergemacht werden muß, könnte sehr gut aus einem Gedicht Verhelsts weggelaufen sein). Die Wirkung in Verhelsts Gedichten ist, mit anderen Worten, rein televisuel: die brutale, illusionäre Wirkung von Bildern, wobei die eventuell dahinterliegende Realität nicht den größeren Teil ausmacht.
Jemand dachte an body-art als er die Befreiung
der Lager sah.
(Verhemelte)
Diese Poetik holt sich ihre Rechtfertigung auch gar nicht mehr aus der Art gering schätzendem Flair, das Joyce sagen ließ, daß Finnegans Wake den Zweck hatte, die Philologen ein paar Jahrhunderte lang zu beschäftigen: Verhelst können diese gehorsamen Philologen, für die das Werk erst Wert bekommt, wenn sie den Schlüssel zu finden scheinen, den sie selbst hingelegt haben, laut einiger nicht mißzuverstehender Aussprachen in Interviews “gernhaben”. Diese Poesie ist nicht länger, wie Slavoj Zizek das über Joyce noch sagt, als Geschichte des Analysanden für den Analytiker gemeint, als eine Struktur, die ihre eigene zukünftige Interpretation schon in sich birgt und sich daher gefallsüchtig oder hoffnungsvoll dem Exegeten anbietet – ein Sich-anbieten, wodurch sie die Macht der Interpretation und ihre Beruhigung bestätigen würde. Nein, es geht, in dieser überwältigenden Fülle ganz entschieden um eine neue Leere, wo die Bilder hinein projiziert werden, ohne daß jemand nach Hause kommen muß, um sie ordentlich in kleinen Fächern unterzubringen. Daß so etwas doch provozierend oder sogar fesselnd sein kann und nicht unverbindlich, hat vor allem mit der Tatsache zu tun, daß die Wirkung der Bilder dadurch nicht geringer zu werden scheint, sondern im Bewußtsein weiter leiert wie ein Monitor, der im Weltall immer noch Bilder von beischlafenden oder kämpfenden Menschen und sich durcheinander windenden Körperteilen aussendet, nachdem der Planet schon lange auseinander geborsten ist. Und der letzte Entschlüsseler dieses Bildes, der Autor der beruhigenden Bedeutung? Schau, der paradiert da kurz im Bild wie eine Parade von Gliedmaßen selbst vorbei (ich muß dabei neuerlich an das realistische Foto auf dem von Cover John Zorns Naked City denken, worauf ein Haufen aufeinander geworfener Körper zu sehen ist, während auf der Vorderseite der CD-Hülle sein Kopf auf einer Schale prangt).
Es ist eine Schlagader geöffnet worden
unter dem Summen von Alle Menschen werden Brüder.
(Master)
Niemand stellt anläßlich dieser Poesie die Gretchenfrage, die man bei anderen Dichtern stets bereit hat, um Werturteile zu fällen: Ist das ‘authentisch’ oder nicht? Verhelst reduziert, einfach durch Form und Inhalt seiner Gedichte diese Frage zu einer Nebenfrage (im Prinzip tut das der Großteil der ins Extreme neigenden Poesie – wie die von Faverey oder Ouwens -, doch hier passiert das schon sehr provozierend). Und das durchschaut schon ein jeder, ohne daß man dann auch weiß, wie es weitergehen soll. Ich nehme an, daß Verhelst das selber auch nicht weiß. Dadurch schwebt dieses schnell anwachsende Werk in einem merkwürdigen Vakuum: Einige Menschen sind sofort und ohne Vorbehalt dafür, ohne daß sie etwas davon begreifen; es scheint ihnen nahtlos in einen Lifestyle zu passen, worin American Psycho auf dem Nachtkästchen liegt, Natural born killers auf dem Wohnzimmertisch und jeder mitreden kann über zwei Seiten von Georges Bataille. Andere sind dagegen, weil es sie oberflächlich an eine Wiederkehr der langweiligen Hermetisten von früher erinnert, nur eben jetzt in einem MTV-Mäntelchen. In beiden Fällen wird nichts über die eigenartige, ambivalente Wirkung dieser beunruhigenden Poesie gesagt.
Und ambivalent ist sie gewiß. In dieser virtuellen Welt sind sogar mehrere schamlos pathetische und zugleich sinnlos scheinende, selbst unverblümt sentimentale oder altmodisch-ritterliche Szenen zu finden (zum Beispiel in der Geschichte um das Werk des spanischen Künstlers Juan Munoz, das später in dem Roman Het spierenalfabet auftauchte), aber sie sind in einen clipartigen Traum von hinter Glas betrachteten Bildern von Wirklichkeiten eingeschlossen, und dadurch sind es keine Gefühle mehr, sondern eher extreme Fluchtpunkte, Provokationen, das Verlangen nach der gottlosen Theologie des Letzten Bildes: Der Märtyrer steht festgebunden wie ein mit Zeichen bombardiertes, denkendes Stück Fleisch. Die Mystik im Werk Verhelsts ist die einer satanischen Eucharistie, randvoll mit nicht einzuordnenden Zeichen, eine Umkehrung der klassischen Theologie, in der die Zeichen noch zu Dogmen auswachsen konnten.
Warum dann noch theologisch? Weil Verhelst über die Unmöglichkeit, das Bild der Erfahrungen, die er suggeriert, tatsächlich erscheinen zu lassen, sprechen muß. Theologie im Sinne der ‘Bilderstürmer’ also: Nicht das wirklichkeitsgetreue oder phantastische Abbilden sagte für sie etwas über das Heilige aus, sondern die schreckliche Unmöglichkeit, bildlich darzustellen, was ihre Welt beherrscht, lenkt, verhext und in seinen Bann zieht. Das ist das Negativbild uralter Religion, das in seiner Poesie herumgeistert wie ein Schimmer des Erhabenen. Nur durch das Bearbeiten der Bilder mit dem Hammer konnte die Erfahrung des Erhabenen in ihrer Ehre gerettet werden: durch das Abrechnen mit den klassischen Formen der poetischen Suggestion und deren Ersetzung durch nichts weiter als das Bild zeigt.
Das ist genau das, was hier, im Zeitalter der virtuellen Reproduzierbarkeit, zu geschehen scheint.
(Dieser Körper gehört nicht dir, weil du das denkst.
Nicht mehr denken der Leib von mir.
Wir wissen nicht, wem wer oder was gehört
Weil wir nicht mehr wissen wollen
Sondern nur wollen).
(De Boom N)
Durch diesen ‘Bildersturm’ auf die Realität wird es paradoxerweise möglich, aus jedem Thema – Bacons Gemälde in Obsidiaan, Baudelaires Leben in Witte Bloemen, die expressionistischen Bilder in Otto, Thierry De Cordiers Gartenmetaphern in De Boom N, der durch den Bombenanschlag wie ein ironischer Ikarus zum Himmel steigende (oder, mit einer Verweisung
auf das Gemälde Breughels, mit den Beinen zappelnde) Rob Scholte in Verhemelte – sofort eine Form abstrakter Selbstinszenierung zu machen. Alle Bruchstücke zusammen verweisen auf diesen von Besessenheit zeugenden Spiegel von Verhelsts eigenem Bewußtsein, worin die Scherben eines Privatskandals auftauchen, die Verletzungen, der Rausch, der Sex, das ängstliche Ritual und der stechend-aufmerksame Blick von jemandem, der ein Messer auf eine Haut gedrückt hält und fasziniert auf eine Schönheit starrt, die ihm notwendigerweise auch entgleitet. Der Hauch von Kriminalität, die heilig wird, erinnert an einen Autor wie Jean Genet oder einen Philosophen wie Mapplethorpe, aber bei ihnen ging es darum, durch diesen Effekt das eigene Leben zu beschreiben: Es wurde eine Hagiographie der kriminellen Schönheit.
Aber oft scheint es sogar so, als ob diese Beschreibung des eigenen Bewußtseins in seinen eigenen Worten gar nichts zur Sache tut; daß bei Verhelst keine Rede ist von einer Autobiographie oder Hagiographie eines gemarterten Inneren – eher von dem sich selbst geschichtenlos Darbieten durch Szenarien, die im eigenen Bewußtsein entstehen und darin sofort wieder untergehen; die existentielle Pathetik Baudelaires und Genets, nämlich sich selbst in Extremsituationen verstehen zu lernen, scheint so gut wie gänzlich zu fehlen. Manchmal gleicht diese Poesie den Erinnerungen einer Sammlung herausgeschnittener, pulsierender Gehirne auf dem Tisch eines Zimmers, das gleichzeitig an ein Laboratorium und an eine Folterkammer erinnert (ein stets drohender und spiritueller Raum, der auch das sonnige Kinderzimmer, die kühle Kirche oder das intime Gartenhäuschen sein kann, denn nichts entgeht dieser fast ekelhaften und zugleich sehr ästhetischen Pulsierung ohne ein Ich). Sie werden durch ihre eigene Dynamik gelenkt und niemand scheint zu wissen, wo diese herkommt. Bei näherem Hinsehen ist da oft nicht einmal ein psychoanalytischer Raum, daher gibt es auch keine Geschichte um näher zu erklären, was geschieht; die Dinge, die Wunden, die Ereignisse und die Räume können nicht in eine symbolische Ordnung ‘heimkehren’, sie bestehen ausschließlich in ihrem eigenen Ritual, worin der Körper desintegriert wird und doch irgendwie zusieht – wie bei seinem eigenen Tod. Die Pracht der aufeinander gestapelten Bilder bleibt gleichsam im traumatischen Stadium stecken. Kein Wunder, daß sich der Internetfreak aus Het spierenalfabet davonmachen konnte, indem er auf eine der Tasten seiner PC-Tastatur drückte.
Dieses ekelhafte, eigenständig bestehende Stück Körper trat zum ersten mal in dem Film Parsifal von Jürgen Syberberg in den Vordergrund. König Amfortas Wunde lag da, wie ein blutiges Stück Fleisch, sprudelnd vor ihm auf einem steinernen Sockel, wesenlos und getrennt vom Körper. Keine Möglichkeit mehr, dieses schrecklich autonom gewordene Stück Wunde wieder in den Körper zu fügen; keine Möglichkeit, es aus dem Gedächtnis oder Bewußtsein zu verbannen, nein – nur das Pulsieren und Sprudeln einer Wunde, die dann auch noch, oh Männerschreck, einer Vagina gleicht und damit, wie Zizek sagt, das pure Symptom der traumatischen männlichen Erfahrung verkörpert. Auf dieselbe Weise zaubert Verhelst fortwährend Fetzen und Fragmente vor unsere Augen, die sich weigern, sich ins Totalbild eines Körpers zu fügen und dadurch weiter geistern.
Die ziemlich erschreckende Schönheit, die daraus entsteht, ist bitter und exotisch. Sie zeugt von einer Art Mystik, die in den vergangenen Jahren in der niederländischen Literatur als völlig unmöglich erachtet wurde (und das für recht viele Leser zweifelsohne auch bleiben wird). Die inzwischen total vergessene “wijnpers van den dood” von Marsman scheint hier ihr Pendant im Zeitalter der virtuellen Bilder zu finden.
Durch ein stumpfes Messer eingerissen, hier auch schon
das Jammernde ob die Distel
in meinem Bauch hineingezogen wird durch jemanden,
der am schmalen, hysterischen Handgelenk Schieles festsaß.
(De Boom N)
*
Eine andere Frage drängt sich bei derartigen Versen auf: Wer ist dieser Jemand, wer taucht hier immer wieder als partner in crime auf, wer erlebt diese Szenen als Angesprochener, Schatten, Körper, Antagonist, Bedroher oder Betrüger mit?
Die Poesie Verhelsts ist nämlich fortwährend in eine Art Streit verwickelt, mit einem äußerst schemenhaften Bild von dem Anderen, ohne daß dieser jemals deutlich ins Blickfeld kommt. Außerdem wird dieser Andere ständig sarkastisch behandelt oder verhöhnt. So beginnt das Gedicht Warhola mit der Bemerkung (eine Anspielung auf die Tatsache, daß Andy Warhol von der psychotischen Valerie Solanas durch Pistolenschüsse verwundet wurde):
(Drei rote Augen;
niedergeschossen, Tantchen?)
(Master)
Auch in den erotischen Passagen ist nur die Rede von einem Anderen, wenn dieser in einem ausgesprochen sarkastischen Kontext erscheint, angesprochen, angefaßt oder relativiert wird. Man kann sich dann auch die Frage stellen, inwieweit der Andere für die Stimme bestimmend ist, das totgeschwiegene Ich, das sich selbst mittels dieser Gedichte zu einem unmöglichen Horizont weiter hetzt. Ist der Andere dann für Verhelst die Hölle oder das bekannte Spieglein, Spieglein an der Wand? Vielleicht ist er oder sie das Absolut Andere: derjenige nämlich, der – Jacques Lacan zufolge – nur im Kopf des Schreibenden besteht – weil er das eigentlich selbst ist: ein anderer, ein Fremder für sich selbst. Und dieser Andere kann nicht anders als fatal sein für das Ich.
Wir glaubten an einen Feind,
weil wir die Definition von Feind
auswendig gelernt hatten.
Wer ist der Feind?
Ich bin der Feind.
(Verhemelte)
Das würde bedeuten, daß sich alle Gedichte Verhelsts in einer schauderhaft einsamen Welt abspielen, aber auch, daß sie strikt monologisch sind, Monologe einer wie besessenen Stimme, die abtastet, ob da draußen, wo der Monitorschirm aufhört, doch die Rede sein kann von einer realen Welt oder eben nicht. Alle Inzisionen, Bedrohungen, dieses unaufhörliche Nach-dem-Leben-trachten: Es ist die Frage, ob es wohl überhaupt etwas gibt out there. Descartes Zweifel am eigenen Körper im Zeitalter von Internet.
Ich mußte immer wieder in meinem Kopf
wiederholen ICH BESTEHE AUS EINEM KÖRPER ICH BESTEHE AUS EINEM KÖRPER
um mich vom Bestehen meines Körpers zu überzeugen.
(Verhemelte)
Der Rausch, der diese Welt umgibt, ist jener eines verschneiten Bildschirms. Wenn alle Zeichen schweigen, beginnt ein blindes Tasten, dem Traum der Formen und Schattenbilder im eigenen Kopf ausgeliefert – ein televisioneler, ein technologischer Spuk, das Pendant zum Teich des Narcissus. Eine gnadenlose Welt ist die Folge, denn der verbissene Kampf wird fast ausschließlich mit sich selbst geführt.
Die Verneinung des anderen und der Außenwelt wird dann vollständig durch eine stürmische Innenwelt ersetzt, wo das unterdrückte ‘Außen’ als ein seltsamer Traum erscheint. Das Bild des gespenstischen Anderen kann nur in und durch die Verneinung bestehen. So werden all die Gestalten aus der abgelaufenen Kunstgeschichte und der heutigen Kunst ebenfalls wachgerufen: als Verneinung des Anderen und dadurch als Creeps, Freaks, Zombies. Der Andere sind sie nur durch die negative Kraft, die sie verleugnet, die sie dadurch schon beim Namen nennt und sie entläßt wie den Geist aus der Flasche. Aber in diesem Augenblick weiß man damit natürlich nichts anzufangen: Ob der Ursprung nun etwas tatsächlich Existierendes oder etwas Erdachtes ist macht dann auch keinen Unterschied mehr. Die Verneinung wird daraufhin zu einem von Blut durchtränkten Zeremoniell, durch das die Gestalten gleichsam inkarniert werden müssen, im wahrsten Sinne des Wortes zu Fleisch und Blut werden. Verhelst ist der erschreckende Alien, der in ihre Haut kriecht, durch ihre Gesichtszüge bricht wie ein Dämon. Er wird, und ist es auch nur für einen Augenblick, für die Dauer des Gedichtes, wirklich zu Malevitsch, Warhol, Mickey Rourke – und tötet in ihnen das Andere, weil er vor allem für sich selbst der Andere ist: Alien to himself, und darum in all den Gestalten gegenwärtig, die er forciert, aufbricht, vergewaltigt, inkorporiert. Eine Kolonne kultureller Zombies ist die Folge.
In einem Gedicht mit dem vielsagenden Titel Succubus (der weibliche Dämon, mit dem der durch mystisches Streben gefolterte Visionär widerwillig den satanischen Koitus vollziehen muß) steht das Folgende:
Ich krieg sie wohl mit Bambushärchen oder geknetet aus Wachs
und Tuch voller Fingernägel, Haupthaar und Streifen Kleid.
Doch bleibt sie mir fremd wie jemand
der nachts auf meinem Kopf kaut, kauert und seufzt
(Master)
Das alles hat sehr wenig mit dem vermeintlichen Sadomasochismus in Verhelsts Poesie zu tun. Im Prinzip sehe ich keinen Anlaß, diese modische Karte aus dem Talon zu ziehen, wenn ich seine Gedichte, die Unbehagen verursachen, verteidigen oder angreifen müßte. Kultursnobismus ist ihr, so sehr man manchmal auch das Gegenteil denken könnte, im Grunde fremd. Dazu ist der Streit viel zu verbittert und radikal. Es steht eine Art Vernichtung durch Selbstvollzug auf dem Spiel, und nicht irgendwelche Ikonen der alternativen Szene. Was ihr Motiv ist, was ihr zugrunde liegt, ist vielmehr das philosophische Problem der Unbegreiflichkeit des Anderen – Shakespeares berüchtigte Frage in The Tempest, ob die Wirklichkeitserfahrung nicht vielleicht eine Halluzination ist und die Halluzination die wirkliche Welt. Dort beginnt die würgende Wirkung des Virtuellen, wo Zweifel aufkommen, ob es wohl virtuell ist, und wo die Wirklichkeit selbst nur als vorbeifliehender Schatten erschütternder, gerade zerstörter Möglichkeiten erscheint. Theologische Paranoia.
Verhelst hat nichts gemein mit dem upsurge all der netten erotischen und SM-Magazinen, coolen Mädchen und Jungs, die endlich ihre geheimen delikaten Stellen gefunden haben und der Welt ihre Entdeckung kundtun wollen. Seine Poesie hat im Grunde auch nichts mit sexueller Emanzipation, Slogans oder alternativen Sichtweisen zu tun. Sie ist eine zeitlose Welt der Grenzüberschreitung im Kopf und ein ungewöhnlicher Durst nach der Wirkung des Erhabenen durch die Bilder – der Augenblick, in dem Nick Cave in dem vorhin genannten Clip Where the Wild Roses Grow die Hände vors Gesicht schlägt, sie daraufhin wieder wegnimmt und einen Blick sehen läßt, der uferlos in sich selbst versunken ist wegen all der Dinge, die er erst nach dem Mord an der fleischgewordenen Schönheit begreifen kann – doch da erscheint die Welt in ihrer grauenhaften, unfaßbaren Totalität.(2)
“Zelfportretten van de dood” – auch das steht im Gedicht Warhola, und es bleibt dabei ungewiß, um wen es geht. Mehr ist nämlich über den Anderen nicht zu erfahren, aber es hält das Bewußtsein ein Leben lang gefangen. Hegel zufolge hat sich der menschliche Geist nur darum so drastisch entwickelt, um imstande zu sein, seinen eigenen Tod zu denken. Diese Entdeckung wird ihn bis ans Ende der Zeiten heranreifen lassen, denn es ist keine Aufhebung in Aussicht, die diese Krankheit heilen kann. Bewußtsein, in seiner radikalen Form, kann auf nichts anderes hinauslaufen als auf die Scheingestalten dieser uralten Obsessionen. Marguerite Duras hat das einmal so unvergleichlich la maladie de la mort genannt.
Inzwischen gibt es zeitgenössische Photographen, bildende Künstler, Regisseure, Musiker und Filmer, die nach dem selben Effekt – das Erhabene in der Sprache der neuen Bilderkultur – auf die Suche gegangen sind: etwas Erhabenes zu ertappen durch diese Wirkung der brutalen, provozierenden Verneinung im heraufbeschworenen Bild.(3) Es sagt etwas über den drohenden Zeitgeist, der durch die Bilder hindurch bricht wie ein Blick, der nicht länger einem bestimmten Gesicht zugewiesen werden kann. Wer im Lichte solcher Entwicklungen noch weiterquengelt über den Tod des Wortes in der Bilderkultur, der muß schleunigst anfangen, seine eigene Zeit mit anderen Augen zu betrachten.
(1) In städtischen Vereinen organisierte Dichter und Literaturliebhaber im niederländischen Sprachraum im 15. Und 16. Jhd. mit einem gekünstelten und mit Fremdwörtern übersäten Sprachgebrauch.
(2) Nick Cave verweist in dieser Nummer auf ein Zitat von E.A. Poe: “The death, then, of a beautiful woman is, unquestionable, the most poetical topic in the world”.
(3) Bereits in seiner Einführung zur aufsehen erregenden Ausstellung Het sublieme gemis anläßlich Antwerpen 93 behauptete Bart Cassiman: “Diese spezielle, unbefangene Beziehung zur Vergangenheit, die gleichgültig scheint gegenüber den geeichten Formen der Wertschätzung und Periodisierung, drückt sich bei einigen zeitgenössischen Künstlern in der rätselhaften Weise aus, wie Elemente aus einer Vergangenheit in ihrer Kunst Niederschlag finden. Ihre Kunst thematisiert oder konsekriert das ikonographische Vokabular nicht, sondern läßt es fast unmerklich – und dadurch so intensiv – resonieren. Es geht also nicht um explizite Reminiszenzen, wobei man eklektisch-postmodern aus der Futterkrippe der Geschichte ißt, sondern um ein Echo, das das Werk im ganzen durch flimmert, ohne dadurch seinen Ursprung deutlich preis zu geben. Ihre Werke beschreiben nicht, sie evozieren. Darum also unterliegt die Erinnerung auf eine derartig radikale Weise einem Prozeß der Imagination (das heißt Imago oder ‘Bild’ werden), bewegt es sich am Rande der totalen Abwesenheit. (…) Durch diese Verwicklung hängt über dem Kunstwerk ständig der Schleier der Vergessenheit. Hinter diesem Schleier ruht, ewig unactuell, das Kunstwerk wie in einem Bett, wo es darauf wartet, zurück ‘imaginiert’ zu werden, das heißt auf eine erhabene Weise erinnert und vergessen zu werden”.
Meer informatie:
https://robscholtemuseum.nl/?s=Stefan+Hertmans
https://robscholtemuseum.nl/?s=Peter+Verhelst
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