Jürgen Hohmeyer – Hitler und Stalin auf Wattewölkchen
SPIEGEL-Redakteur Jürgen Hohmeyer über die Documenta 8 in Kassel
Feuerzauber über Leichenbergen, der Salonmaler als KZ-Reporter: Man muß das sehen, um es für möglich zu halten.
Vielerlei Kunstwerke hat der Amerikaner Robert Morris schon vors Publikum gebracht. Einst, in den sechziger und siebziger Jahren, konnte er als ein Haupttalent derart karger, selbstgenügsamer Exerzitien wie Minimal Art und Process Art gelten. Später suchte er dem flüchtigen “Zeitgeist” (so l982 in Berlin) mit gezeichneten Strichwirbeln und Skelett-Umrissen als Spuren eines atomaren “Feuersturms” gerecht zu werden. Nun bei der letzten Freitag in Kassel eröffneten Documenta 8, _(Dreibändiger Katalog, zusammen 840 ) _(Seiten; 90 Mark. Ausstellungsführer 112 ) _(Seiten; 12 Mark. )
wartet er wiederum mit einem neuen Thema und einer neuen Machart auf.
Im Zentrum riesiger Morris-Bildobjekte (bis zu 3,72 mal 6,70 Meter) tauchen da schemenhaft Szenen des Grauens auf, wie Photographen sie bei Kriegsende in den befreiten Lagern von Auschwitz, Dachau oder Buchenwald zu protokollieren hatten.
Solche Photos, auf Aluminiumplatten reproduziert, sind in der Tat das Material des Künstlers. Nur hat er es gut gefunden, die unansehnlichen Dokumente mit einer originellen Malertechnik grell auszuschmücken. Gelbe, rote und lilafarbene Wachspigmente, mit dem Lötkolben aufgetragen, werfen nun ein theatralisches Höllenlicht auf die Schreckensbilder. Und als pompöser Bühnenrahmen begleitet ein Fries schwarzer Kunststoffreliefs – abgegossenes Sediment aus Müll, Gezweig und Gebein – die Szenerie.
Historisches Grauen wird nicht bildnerisch umgesetzt, sondern illustrativ, mit Mitteln und Effekt eines prätentiösen Kunstgewerbes ausgeschlachtet: Die Peinlichkeit wäre zu verschweigen, nähmen die Morris-Werke nicht einen prominenten Raum in jenem Kasseler Museumsstockwerk ein, das laut einem Documenta-Text die “Mitte der Veranstaltung” bildet, würden sie nicht im Katalog sogar “an die Seite Goyas” gerückt und handelte es sich nicht um einen Beitrag, zu dem Ausstellungsleiter Manfred Schneckenburger besonders aus- und nachdrücklich “steht”.
Unter den 120 Künstlern (ohne Designer, Architekten und Performer), die bis zum 29. September im einst landgräflichen Museum Fridericianum in der Orangerie und unter freiem Himmel ausstellen, bezieht Morris eine Extremposition. Zum Glück für die Documenta und ihre Besucher sind seine titellosen altarähnlichen Tafeln da nicht unbedingt typisch. Aber sie zeigen denkbar kraß, wohin es mit einer Kunst kommen kann der Schneckenburger, “absichtlich so vage”, einen Hang zur “historischen und gesellschaftlichen Dimension” nachsagt.
Solcherlei Schaffen wird nach dem Eindruck der Documenta-Seismographen neuerdings durch einen “Wandel im Kern der künstlerischen Motivation” (Schneckenburger) begünstigt und steht deswegen im Mittelpunkt der Kasseler Über-Schau. Auf Schritt und Tritt erhebt sich so die Frage, was die Bildnerei bei einer Wendung ins Politische gewinnt oder riskiert und wie gut soziale Verantwortung bei ihr aufgehoben ist.
Im Fall Morris fällt die Kunst, deren Substanz und Moral nicht zuletzt in der Form besteht, einer gefühligen Kitsch-Ästhetik zum Opfer. Doch auch das umgekehrte, knochentrockene Malheur kommt vor.
Gleich beim Entree ins Fridericianum stößt der Besucher auf eine Dokumentation in der (längst eingeführten) Art des Deutsch-New Yorkers Hans Haacke: Unter einem gewaltigen Mercedes-Stern und um das hausartig-dreidimensional aufgebaute Signet der Deutschen Bank sind Leuchttafeln mit Daten zum Südafrika-Geschäft der beiden Firmen sowie Photos schwarzer Südafrikaner gruppiert. Die Kunst-Gestalt des Arrangements ist kaum erheblich, der Informationsgehalt hätte leicht und sinnvoll auf zwei DIN-A4-Seiten Platz. Die Diskrepanz von Aufwand und Ertrag ist augenfällig.
Wenn sozialer Ansatz die künstlerische Lösung ersetzen darf, sind Niveauschwankungen noch weniger zu vermeiden als ohnehin bei einer Großausstellung wie der Documenta. Beim Rundgang schlägt das fallweise zur Ernüchterung, dann wieder zu freudiger Überraschung aus: Nur buchstäblich auf einer Ebene mit Morris werden auch das suggestive Beuys-Environment “Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch” und die differenzierte Mythenmalerei von Anselm Kiefer gezeigt. Weder, so zeigt sich, ist Kunst mit “gesellschaftlicher Dimension” unabdingbar flach, noch haben sich die Documenta-Macher stur an dieses Kriterium gehalten.
Selbst wenn einen die Panoptikums-Effekte bedenklich stimmen können: Der Amerikaner Robert Longo hat seine sinistre Raum-Einrichtung aus drehbarer “Zombie”-Figur (SPIEGEL 23/1987), einem “Samurai”-Bild, das bedrohliche grüne Glassplitter ausstreckt, und einem roten Killersatelliten-Objekt mit Phantasie und Überzeugungskraft entwickelt.
Raumfüllende Inszenierungen sind, bei herabgesetzter Teilnehmerzahl, eine Spezialität der achten Documenta. In Sälen und Gelassen haben sich zumal Objektemacher und Bildhauer eingerichtet – so, eindrucksvoll, die in der Bundesrepublik lebende Tschechin Magdalena Jetelova mit einer Rohholz-Konstruktion zwischen Architektur, Mobiliar und freier Plastik.
Die Maler, eine besonders geschrumpfte Fraktion, haben als Neuerungen beispielsweise die witzigen Allegorien des Amerikaners Mark Tansey oder hintersinnige Bild-im-Bild-Darstellungen des Niederländers Rob Scholte zu bieten. Dessen “Fetischismus”, ein (gemalter) Tisch mit Anbetungsgegenstand, hat in einem (wirklichen) Tisch-Arrangement des Franzosen Jean-Marc Bustamante im gleichen Stockwerk seine Entsprechung.
Große Attraktion: der 18 Meter lange, beidseitig mit je einer fortlaufenden Bilderfolge bestückte Paravent der in New York lebenden Exilrussen Vitaly Komar und Aleksandr Melamid. Den daheim erlernten Sozialistischen Realismus mischt das Duo mutwillig mit Pop und banalen Konstruktionen, läßt zum Thema “Jalta 1945” den großen Stalin in akademischer Glätte erstrahlen, während Roosevelt und Churchill westlichverfremdet dasitzen, montiert einen (Beuys-?)Hasen (Beischrift: “Niemals”) sowie einen Tannenbaum ins Bild und läßt über aufgeklebten Wattewölkchen Hitler und Stalin als Entschlafene ruhen.
So facettenreichem Schabernack kontrastiert, zwei Stockwerke tiefer und in der entgegengesetzten Fridericianum-Ecke, der deutsche Maler Gerhard Merz (SPIEGEL 14/1987) strenge Feierlichkeit. Er hat darauf bestanden, daß sein Sonder-Gemach aus der schräg abgewinkelten Ausstellungsarchitektur ausgespart und im rechten Winkel zum Gebäude blieb. Vor satt orangefarbenen Wandflächen zeigt er rote Tafeln mit Anspielungen auf Kreuzigungsaltäre, außerdem bronzene Totenköpfe.
Auch dieser Kunst in ihrer klassischen Ordnung ist sicher eine “gesellschaftliche Dimension” abzugewinnen. Doch bei den gestischen Abstraktionen von Gerhard Richter versagt die Meßlatte. Hier hat, wie Documenta-Chef Schneckenburger zugibt, die – begründete – Wertschätzung für einen Künstler über das Ausstellungskonzept gesiegt. Auch Bildhauer Ulrich Rückriem, der seinen Granitklotz, ein wahrhaft starkes Stück, in einem Betonkarree auf einem Parkplatz abkapselt, muß sich im Kreis der Eingeladenen fremd vorkommen. Dem Besucher bleibt die Wahl, den Zugewinn an Kunst zu preisen oder die Konfusion zu kritisieren.
Näher beim Thema entfalten sich, in einem Turm-Annex des Fridericianum, Szenarien von unheimlicher Technik. Da läßt in einer Video-Installation (“Coventry”) der Deutsche Klaus vom Bruch zu Requiem-Klängen Raketenformen von oben niederstoßen. Da projiziert sein Landsmann Ingo Günther Satellitenaufnahmen in ein hermetisches Marmorkabinett. Und da spult hinter steinernen Sarkophagen die Amerikanerin Jenny Holzer Leuchtschriften mit zynischen Sprüchen (“I do not want to be a human”) ab.
Sprüche über Sprüche: Im Fridericianum-Treppenhaus plakatiert Barbara Kruger beispielsweise die Menschen als “gefährdete Art”, an Hauswänden im Documenta-Umkreis fordert Les Levine Passanten auf: “Verführe dich selbst” oder “Hasse dich selbst”. Dabei gibt es, schon wahr, auch Bildmotive, aber die Sprache kommt mit der “gesellschaftlichen Dimension” immer noch am besten zurecht.
Sie kann sogar bis zur Unverständlichkeit verfremdet werden. Als vielstimmige Litanei, als Raunen und Wispern, das sich nicht nur von Augenblick zu Augenblick, sondern auch je nach Position des Hörers im Raum verändert, ertönt in der Karlskirche aus 36 Lautsprechern eine Klangcollage des US-Altmeisters John Cage. Wer Bescheid weiß, daß dem Werk ein Traktat über die Pflicht zu bürgerlichem Ungehorsam zugrunde liegt, kann die Kunst-Suggestion nicht nur bei geschlossenen Augen, sondern auch ohne Textverständnis aufnehmen.
Sprache lenkt sogar das Fallbeil: Auf den Guillotinen, die der Schotte Ian Hamilton Finlay im malerischen Auepark als Rahmung für die Perspektive auf einen entfernten Pavillon hat aufstellen lassen, sind Revolutionssentenzen, etwa über den Terror als “die Steigerung von Tugend”, geschrieben.
Die Guillotine – ein nützlicher Gebrauchsgegenstand? Auch unter diesem Aspekt wäre Finlays Werk im Documenta-Grün gerechtfertigt. Kunst, das soll die Kehrseite ihrer sozialen Verantwortung sein, nähert sich zugleich dem Design, dem Möbelbau, der Architektur. Sie engagiert sich, oder aber sie wird dekorativ, vielleicht beides zugleich.
Nicht wirklich praktisch, sondern nur ein ironisiertes “Würdeobjekt” ist aber jene Sänfte, die Klaus Kumrow auf den Rasen gestellt hat. Und jedenfalls zur Documenta-Vorbesichtigung in der letzten Woche konnte auch in Thomas Schüttes Parkpavillon noch kein Eis verkauft werden. Daß zugleich in der Orangerie noch heftig gearbeitet wurde, dürfte einen sachgemäßen Verwirrungseffekt nur gesteigert haben: Wo die freie Kunst aufhört und das Design oder der Bereich der Architekturmodelle anfängt, läßt sich stellenweise schwer unterscheiden.
Ein vollkommenes, stilles Gegenbild zur Kunst als Dekoration, auch zu jeder Redseligkeit und schließlich zum Bombast von Morris” KZ-Theater bietet ein kleines, abgelegenes Kabinett im Fridericianum. Der Franzose Christian Boltanski hat da Hunderte namenloser Porträtphotos in Reihen über- und nebeneinander quer in den engen, abgedunkelten Raum gehängt (“Les Reserves”) – eine Erinnerungskapelle, ein Bilder-Depot, das aber auch, beklemmend, die Menschen wie auf Lagerpritschen oder in Massengräbern zu stapeln scheint.
Dreibändiger Katalog, zusammen 840 Seiten; 90 Mark. Ausstellungsführer 112 Seiten; 12 Mark.
Der Spiegel, 15.06.1987
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