Joachim Kettel – Das diskontinuierlich gewordene Ich: Identitätsübergänge (fragment)
Wenn der Künstler seine Zentrizität verlässt, und dies muss er tun, will er sich nicht reproduzieren, verlässt er auch jene selbstherrliche und rigide Identität und begibt sich auf den Weg des Übergangs, seine Identität wird grenz-durchlässig. Dabei besteht – bei aller Euphorie und bei aller Freude über eine neue, andere Identität- dennoch auch die Gefahr eines Scheiterns, genauer der Verlust an die Fremdheit, der zur Erstarrung, zur Schwermut, zum Absturz und zum Tod führen kann. Schuhmacher-Chilla verweist in diesem Zusammenhang auf die Frühmoderne und das Werk Caspar David Friedrichs, bei dem das Andere, und das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst im Motiv der Natur, in der Landschaftsdarstellung, durch die Abtrennung des Raums zum Selbst abgegrenzt wird, dennoch im Naturerlebnis das Selbstgefühl charakterisiert, indem hier die Natur zur zweiten Natur in der Künstlichkeit des Kunstmodus wird. Fortan wird die Suche nach dem Unbekannten – im Subjekt und in der Natur – zur Aufgabe der Moderne. Thema der Natur wird die Selbstreflexion im Überdenken der Stellung des Subjekts in der Welt, wobei die Frage nach dem Fortschritt mit einer Kritik an einer Kultur verbunden wird, die den Menschen zunehmend von sich selbst entfremdet, weil sie ihn auch von der (seiner) Natur entfernt. Für Schuhmacher-Chilla artikuliert Friedrich das moderne, gebrochene Gefühl gegenüber einer als (über)-mächtig empfundenen Natur. Der Schein der natürlichen Einheit ist bei ihm der Schein des Schönen.
In der Moderne nun zündet die gegenseitige Ergänzung im Verweis auf Wahrheit nicht mehr: Es erfolgt in der Reduktion der Malerei auf Malerei nur noch der Selbstverweis des Bildes. Die postmoderne Diskussion um die Rolle des Subjekts und um die Ästhetisierung der Lebenswelt führt schließlich zur Frage nach jener Instanz, die derartige ästhetische Erfahrungen macht. Bei Friedrich – so Schuhmacher-Chilla – treffen wir auch ohne Figur auf den „empfindungsbetonten Spiegel des menschlichen Ichs.“ (367) Wie schon bei Petrarca beginnend, wird bei ihm die existentielle Stellung des Menschen in der Welt ästhetisch reflektiert. Die Bindung an Natur und Gott zerbricht aber langsam und die Gefahr einer anthropologischen und psychologischen Zerrissenheit ist kaum noch zu bannen, womit der Ausstoß der Figuren aus der Natur der Friedrichschen Landschaften sich bereits andeutet. Es setzt nun – ähnlich der radikalen Selbstreferenz der Günderode, Brentano und Tieck – bei Friedrich die Selbstreflexion und ein Zustand einer „Abwesenheit von Selbsterhaltung ein“, den Bohrer auch als „ästhetische Subjektivität“ bezeichnet hat. Gerade die Rezeption des Gemäldes „Mönch am Meer“ in Kleists Metapher-Reaktion ist adäquat zur Normverletzung in der Komposition, sie ist auch ein Selbstzeugnis des eigenen Zustandes eines „diskontinuierlich gewordenen Ichs“ (368), das seine Selbsterhaltung allein noch in einer poetischen Sprache garantieren kann.
Schuhmacher-Chilla verweist hier auf den Bildaufbau und dessen Kompatibilität mit dem Inhalt und dem durch das Bild erwirkten radikalen Selbstbezug des Rezipienten bzw. dessen Reaktion auf die ästhetische Wirkung, die ein Gegenüber als Empfänger braucht – trotz aller noch so starken eigenen Gefühlsreaktionen. „Der Mönch am Meer“ wird zum Spiegel der Persönlichkeit Friedrichs, bzw. der ästhetischen Subjektivität jener Zeit. Das ästhetische Bewusstsein rekurriert auf die Erfahrung des Bruchs und der Desillusionierung. Seinem ästhetischen Ich droht aus der Resignation heraus, dass die katastrophische Situation der Gegenwart nicht mehr durch ein Reich Gottes überboten werden kann, der Verlust des Selbstbezuges, da auch das klassische Ideal einer vernünftig- guten Natur, die die Menschen versöhnte, nunmehr zerfällt. Das Gemälde „Der Mönch am Meer“ zeigt in seinem Selbstentwurf die Konfrontation mit einer totalen Unbestimmtheit, die nicht mehr nur das Andere, Undenkbare ist (sondern das Erhabene). Hier wird eine Extremsituation menschlichen „Geworfenseins“, menschlicher Freiheit, anzeigt und die Gratwanderung am äußersten Rande der Welt wie auch die Gefahr eines völligen Verlustes an jene Fremdheit deutlich. Im „Mönch am Meer“ ist nunmehr die äußerste Grenze des Selbstgefühls und des Ästhetischen erreicht.
Das Ohnmachtgefühl, überhaupt nicht mehr in gesellschaftliche Entwicklungen eingreifen zu können, die Skepsis gegenüber der Erfüllungskraft der politisch definierten Geschichte, schürt nun auch das Interesse, das Ästhetische mit dem Pädagogischen zu verbinden. Seine gesellschaftlich- therapeutische Funktion findet sich schließlich in der ästhetischen Erziehung wieder. Die Kunst als Abweichung, paradoxerweise gesellschaftlich gewollt und legitimiert – „durch Dissens wird Konsens zur Gesellschaft“ (Welsch) – , wird in der Moderne immer mehr zum Feld des Anderen der Gesellschaft. Gleichzeitig wird auf diese Weise auch das Andere – die Kunst – gesellschaftlich definiert. Ist sie dennoch nicht mit sozialen Intentionen zu verwechseln, so erhält sie die Aufgabe, das Andere, Nicht-Affirmative, der Warenwelt darzustellen. Als Eigenschaft der sozialen Ausdifferenzierung – ich habe hierauf bereits an anderer Stelle hingewiesen – hat die Kunst als Gegenbegriff zum Standard der Normalität das Andere, das Artifizielle zum Ausdruck zu bringen. Allerdings – darauf verweist Schuhmacher-Chilla – darf jene von Welsch angesprochene Antizipation der Zukunft (der ‘seismographische’ Charakter der Kunst) nicht Affirmation an das Bestehende sein: „Sie kann aber auch nicht im starken Aufklärungspathos als Emanzipationsanspruch so verfahren, wie es die historische Avantgarde getan hat, als sie mit Mitteln der Kunst den Status in der nachbürgerlichen Gesellschaft angegriffen hat.“ (369)
Gegen den „Einheits- und Ganzheitsdruck“, der das „ganze abendländische Denken“ durchziehe (Welsch), erinnert er daran, dass die Diskussion der Postmoderne in den letzten Jahren zumindest belegt habe, dass man sich erstmals von der „Verkrampfung“ dieses Denkens hätte lösen können, indem man endlich wohltuend anerkannt habe, dass die Wirklichkeit plural verfasst sei. Diese Erkenntnis, die bereits auch Musil im Mann ohne Eigenschaften vermittelt, der auf die Probleme verweist, die sich mit dem Erstarren in einer festen Persönlichkeit auftun, vermitteln für Welsch gerade auch jene Arbeiten der amerikanischen Künstlerin Cindy Sherman und vieler anderer KünstlerInnen der zeitgenössischen Kunst. Die „Verbreiterung des Identitätsfächers“ und die Generierung „neuer, betont pluraler Identitäten“ sieht Welsch hier exemplarisch gezeigt, experimentell-künstlerisch erzeugt und modellhaft demonstriert für die Dynamik der modernen Gesellschaft: „Die Vervielfachung gesellschaftlicher Identität verlangt in der entwickelten Moderne – man nenne diese ‘Postmoderne’ oder anders – eine progressive Aneignung dieser Pluralisierungsdynamik. Sie ermöglicht einen Typ von Individualisierung, der Pluralisierung zur Essenz hat.“ (370)
Seine Einsichten filtert Welsch aus den Beobachtungen der Arbeiten des Berliner Künstlers Paco Knöller, dessen menschliche Figurationen eine „Bewusstseinsarchitektur“ aufwiesen, die eher rudimentär und offen, auf „zu erkundende Gänge und Möglichkeiten“ zeige, aber keine definitive Gestalt darstelle: „Man wird die angedeuteten Gänge beschreiten, ins Dunkel sich hinauswagen, den Irrweg durch das Labyrinth auf sich nehmen müssen. Man? Wer? Dieses Subjekt natürlich.“ (371)
So erweise sich dieses Subjekt nicht allein von außen multipel, ebenso in seiner Binnenstruktur, die unfestgelegt, offen und auf eine Reihe „weitere Erfahrungen und Konkretionen“ angewiesen sei. Dieses charakterisiere nicht der personale Besitz, sondern „archaische Reminiszenzen“ und „offene Möglichkeiten“. Angedeutet seien in den Zeichnungen Knöllers menschliche Rudimentärformen, die sich erst über eine ganze Vielzahl von Wegen, Erkundungen und Erfahrungen formten und erst dann zu bestimmter Identität führten. So zeige Knöllers Bild vom Menschen gerade keine Strukturen „selbstheller Reflexivität“ oder „Gebilde personaler Vollendung“, sondern „offene Flächen, Tiefenschächte und unabsehbare Möglichkeiten.“ (372)
Welsch verweist auf das spezifische „Austauschverhältnis“ zwischen der Gestalt und seiner Umwelt. Graphische Linien bezeichnen hier körperliche Grenzlinien, aber nicht die „substantielle Autonomie“ konstituiere die Gestalten Knöllers, als käme der Mensch aus seinen Umgebungen, in die er sich späterhin auch wieder auflösen werde. Welsch sieht in diesen Arbeiten ein „Einverstandensein“ mit einem Denken, das die Umgebung des Menschen zum gleichwertigen Aktor werden lässt, gegen die er sich nicht stemme: „Der Mensch, der seine Substanz nicht aus sich hat, denkt auf seinen nächsten Übergang, auf die Auflösung seiner prekären Existenz vor, und er lehnt sich nicht selbstherrlich-eingebildet dagegen auf, sondern stimmt dem nachdenklich-sinnend zu. Der Mensch ist eine vorübergehende Seinsweise, ein Übergang zwischen Licht und Dunkel.“ (373) So sei der Mensch in Knöllers Zeichnungen nicht mehr jenes selbstmächtige, selbsterwirkte Geschöpf konventioneller Identität und vorgeblicher Autonomie, denn es trete jetzt in einer „temporären Konstellation“ (Welsch) in die Existenz, es gewinne seine Form unter vorgegebenen Bedingungen.
Ähnliches sieht Welsch auch in den vielfachen Foto-Übermalungen des Wiener Malers Arnulf Rainer realisiert, dessen gestische Übermalungsaktionen eigener Fotos nicht nur die eigene Identität, sondern auch grundsätzlich jene des Mediums, des Fotos, des Bildes selbst in Frage stellten. Bei ihm werde so der „Identitätsmechanismus Bild „ zu einer „Vollzugsform der Auflösung von Identität“ (Welsch) umfunktioniert und die „bürgerlich-ruhige Identität“ der Person und die hiermit korrespondierende Sicherungsfunktion des Abbildes in Zweifel gezogen. Hier werden antiquierte Identitätserwartungen unterlaufen und subversiv gegen das eigene Medium gewandt, dessen gesellschaftliche Funktion gebrochen wird.
Thematisierung von Identiätsübergängen in Form von Ambivalenzen und Gegenstandsmetamorphosen beobachtet Welsch ebenso bei der französischen Künstlerin Louise Bourgeois. Hier erkennt er die Thematisierung von „grundsätzlicher Ambivalenz und Ambiguität“, indem Bourgeois mit „Verschiebungen zwischen Begriff und Form“ oder mit „komplexen Hybridbildungen“ operiere und hierbei zu suggestiven, fernliegenden Identitäten in der Reflexion und materiellen Objektivation männlicher und weiblicher Sexualität gelange. Welschs Beispiele mehr oder weniger aktueller künstlerischer Produktion lassen sich weiterhin ergänzen. Sie gelten nicht allein für die Kunst der aktuellen Gegenwart, sondern lassen sich bis in die Frühzeit des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen, denken wir allein an die umfünglichen Wandlungen von Stilen und „Perioden“, von Materialien und Darstellungsweisen im Werk Picassos. Andererseits lassen sich Welschs Ausführungen u.a. gerade auch auf die Arbeiten des Surrealismus anwenden.
Ohne hier die einzelnen künstlerische Positionen näher beschreiben zu wollen, lässt sich festhalten, dass wir transitorische Identitätsformen in der zeitgenössischen Kunstproduktion in den Werken von Joseph Beuys (Subjektivierung der Natur/ Infragestellung eurozentristischen Denkens/ das Denken des Leibes), Sigmar Polke (Infragestellung der Autorschaft), Francesco Clemente (Thematisierung von Geschlechts-Übergängen und außereuropäischen Kulturformen), Enzo Cucchi (Mythenrezeption), A.R. Penck (Erarbeitung individueller Mythologie und Archaismus), Michel Basquiat (Thematisierung und Hybridisierung differenter kultureller Zeichencodes von Hoch- und Alltagskultur), Georg Baselitz (Primitivismus), Mario Merz (Thematisierung archaischer, primitiver Kulturformen und Exotismen), David Kelley (Spiel mit differenten kulturellen Codes und Hybridisierungen unterschiedlicher Kulturformen), Pia Stadtbäumer (Geschlechter-Hybridisierungen), Roni Horn (Thematisierung unterschiedlicher künstlerischer Forschungsbereiche: Zeichnung, Foto, Skulptur), Robert Gober (Thematisierung körperlich-technischer Hybridbildungen), Rob Scholte (Infragestellung der Autorschaft), Thomas Grünfeld (Tier- und Mensch-Tier-Hybridisierungen), u.a. KünstlerInnen finden.
(367) Schuhmacher-Chilla: S. 65.
(368) Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick ästhetischen Scheins. Frankfurt/M. 1989; Zitiert nach Schuhmacher-Chilla: S. 70.
(369) Schuhmacher-Chilla: S. 72.
(370) Welsch: Identität im Übergang, S. 180.
(371) ebenda, S. 183.
(372) ebenda, S. 184.
(373) ebenda, S. 186.
Uit:
Spiegel des Selbst
Selbstreferenz in kunstpädagogischen Vermittlungsprozessen
Von der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie – Dr. phil. – genehmigte Dissertation von Joachim Kettel geboren am 30.11.1955 in Letter/Hannover
Erstreferent: Prof. Dr. Reimar Stielow
Koreferenten: Prof. Konrad Jentzsch, Prof. Dr. Hannes Böhringer
Tag der mündlichen Prüfung: Dienstag, den 23. November 1999
http://opus.hbk-bs.de/files/5/DISS_KET.PDF
PDF:
https://drive.google.com/file/d/0BykV0aKJd5YJcFd6ZGJ0OWFoSFU/view?usp=sharing
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