Heike Friauf – Zwischen Realität und Utopie: Geschlechterkonzepte und Selbstbilder in der zeitgenössischen bildenden Kunst

Ulrike Rosenbach – Glauben Sie nicht, dass ich eine Amazone bin

Zwischen Realität und Utopie: Geschlechterkonzepte und Selbstbilder in der zeitgenössischen bildenden Kunst

Zusammenfassung

Die politische Emanzipationskraft der in den 1960er und 1970er Jahren entwickelten feministischen Kunst ist heute teilweise der Genderdebatte zum Opfer gefallen. Weiterhin notwendige feministische Arbeit wird vernachlässigt, feministische Kunst musealisiert und entpolitisiert. Außerdem führt die populäre Beschäftigung mit Genderfragen mitunter zur Vernachlässigung künstlerischer Fragen. Dabei bietet das „Neogeschlecht“ spannenden Stoff für künstlerische Selbstrepräsentation. Die Grenzen zwischen den Genres werden aufgelöst, auch die Grenzen zwischen realem Abbild und Wunschprojektion, klassischem Selbstporträt und gendersensitiver Selbstinterpretation verfließen.

Schlüsselwörter

Biotechnologie, Entscheidungsfreiheit, Feministische Kunst, Geschlechtersensitive Kunst, Kunst von Frauen, Markenzeichen, Performative Ästhetik, Postmoderne, Selbstporträt, Selbstverletzung, Sich-selbst-Erfinden, Subjektbegriff

Summary

Reality or utopia? Concepts of gender and self-images in contemporary visual arts
Part of the emancipatory force of 1960s and 1970s feminist art was lost along the way because the gender debate now dominates public discourse. While feminist action is still necessary, feminist art is being historicized and depoliticised. In addition, the popular focus on gender issues sometimes results in a neglect of artistic issues. Nonetheless, “neo-gender” offers exciting material for artistic self-representation. The boundaries between genres are melt away as do the distinctions between realistic image and desired icon, classic self-portrait and gender-sensitive self-interpretation.

Keywords

aesthetics of performativity, autonomy of decision, biotechnology, concept of the subject, feminist art, gender-sensitive art, postmodernism, self-injury, self-invention, self-portrait, trademark, women’s art

Am Kunstschaffen einer Gesellschaft lassen sich gesamtgesellschaftliche Entwicklungen ablesen, wenn auch nicht ganz so leicht wie das Wetter an einem Barometer. Die Untersuchung von Selbstbildern in der zeitgenössischen bildenden Kunst verdeutlicht, dass die künstlerische Selbstverortung im 20. und 21. Jahrhundert untrennbar mit dem gleichzeitig stattfindenden Genderdiskurs verschränkt ist. Einerseits entstehen dadurch neue künstlerische Ausdrucksformen. Andererseits unterliegt die Arbeit von Künstlern aller geschlechtlichen Zuordnungen auch den Beschränkungen und Problemen der Genderdebatte. Als folgenschweres Problem muss die Verdrängung des als politische Emanzipationsbewegung begonnenen Feminismus aus der Debatte angesehen werden, die nicht nur daran zu sehen ist, dass in Katalogen und Publikationen der letzten dreißig Jahre „das Wort ‚feministisch‘ immer seltener gebraucht wird“, wie die Kunsthistorikerin Anja Zimmermann (2008: 57) betont. Bereits in den 1990er Jahren wurde die Zeit des „Postfeminismus“ ausgerufen. Sind feministische Fragestellungen nur noch von historischem Interesse?
Ausstellungen und Publikationen der letzten Jahre legen diesen Befund nahe. Die 2006 in Zürich gezeigte Schau „It’s Time for Action (There’s No Option). About Feminism“ versammelte ungeachtet ihres kämpferischen Titels im Wesentlichen frühere Positionen der Kunst von Frauen, war damit retrospektiv angelegt. Die heute international renommierte Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist (*1962) war mit einem beinahe 20 Jahre alten Video vertreten: „(Entlastungen) Pipilottis Fehler“ von 1988. Bei Rists Arbeiten ist zu fragen, inwieweit sie überhaupt als feministisch gelten können. Wie weit reicht die kritische Reflexion der eigenen Geschlechterrolle, die Auseinandersetzung mit Genderaspekten, die Bearbeitung der Ungleichbehandlung von Frauen mit Mitteln der Kunst, mit anderen Worten: die emanzipative action?
Es ist schwierig, bei Selbstbildern im Medium der zum Zeitpunkt von „Pipilottis Fehler“ noch jungen Videokunst zwischen politischem Statement und geschickter Selbstpositionierung im internationalen Kunstbetrieb zu unterscheiden, zumal beide Zielsetzungen Hand in Hand gehen können. 1986, auf dem Höhepunkt der von Fernsehsendern wie MTV erzeugten Musikvideowelle, veröffentlichte Rist das Kunstvideo „I’m Not the Girl Who Misses Much“. Darin zeigt sie sich oben ohne und mit Perücke unverkennbar als Sexobjekt, während sie die Titelzeile unzählige Male wiederholt und Farbschlieren das Bild verfremden. Der Text verstärkt den Objektcharakter der Figur, denn diese äußert keine eigenen Worte, sondern die erste Zeile eines Beatles-Songs „She’s not a girl who misses much“, wobei Rist das Pronomen „she“ in „I“ geändert, die weibliche Protagonistin sich also zusätzlich unterworfen hat. Ihr Video ist leicht als Parodie auf die Frauenverachtung in Musikvideos zu lesen. Als Selbstporträt ist es ein Anti-Selbstporträt oder, wie die US-amerikanische Kunsthistorikerin Sarah K. Rich über dieses Video schrieb: Rist „exists in the video to the extend to which she performs a certain non-existence“ (Rich 2003: 17). Rist begab sich, stellvertretend für unzählige namenlose Frauen, in eine Objektrolle, doch was folgte daraus? Ein etwas beklemmendes, aber auch lustig anzusehendes Video, das im Wesentlichen zeigt, was wir schon wissen.
Wenn aber eine Künstlerin in den Kontext des Feminismus gestellt wird, vor allem weil sie ihr Frau-Sein als Ausdrucksmittel nutzt, dann passiert noch etwas anderes als die Historisierung einer emanzipatorischen Bewegung: Die Entscheidungskriterien dafür, was „feministisch“ ist, lösen sich auf. Dann entscheidet der Bekanntheitsgrad einer Künstlerin, ob sie in eine Feminismus-Ausstellung aufgenommen wird, womit wiederum die Ausstellung mehr Beachtung gewinnt. Bei beständig knapper werdenden öffentlichen Kulturbudgets ist die BesucherInnenzahl einer Ausstellung womöglich wichtiger als ein schlüssiges Konzept.
Feministische Kunst wird von zwei Seiten infrage gestellt: Sie gilt als historisch und damit veraltet und ausreichend ersetzt durch den Genderdiskurs – der wiederum selbst in Gefahr ist, von der radikaler und zeitgemäßer wirkenden Queer Theory abgelöst zu werden. Zum zweiten dient sie in den letzten Jahren einer auffallend großen Zahl von Ausstellungen und Publikationen als „Markenzeichen“, womit sie neben Kategorien wie „Kunst der Aborigines“ oder „Kunst des Voralpenlandes“ katalogisiert und ihrer politischen Inhalte entkleidet wird. Diese Problematik muss mitbedacht werden, wenn man die heutigen Werke gendersensitiv arbeitender Künstlerinnen und Künstler betrachtet. Nicht wenige von ihnen treten ohne ernst gemeinte politische Fragestellung auf, als ob feministische Forderungen nach Chancengleichheit inzwischen umgesetzt wären. Schon ein kurzer, auf ökonomische Fakten gerichteter Blick auf den Kunstbetrieb kann zeigen, dass dem nicht so ist. Über die weiterhin nötige feministische Arbeit hinaus bietet die heutige Erweiterung der Aufklärungsarbeit auf homoerotische, bisexuelle, transsexuelle und jedwede andere geschlechtliche Orientierung, kurz: auf das „Neogeschlecht“ (Sigusch 2005: 7), spannenden Stoff für künstlerische Arbeit.

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Die ersten bekannten Selbstbildnisse von Frauen

Im allgemeinen Sprachgebrauch wird ein Selbstportät als Wiedergabe der eigenen Physiognomie der Künstlerin oder des Künstlers angesehen. Porträtiert eine Künstlerin sich nur am Rande, etwa in einer Nebenfigur ihrer Gesamtkomposition, wird die Abbildung nicht unbedingt als Selbstporträt anerkannt. In den Kunstwissenschaften werden unterschiedliche Ansichten zu Selbstbildnissen, -porträts, -darstellungen vertreten, Begriffe, die hier vereinfachend synonym verwendet werden. Wie sich die Moderne vom Zwang zur getreuen Wiedergabe der Natur verabschiedete, so müssen wir uns von der engen realistischen Auffassung der künstlerischen Selbstdarstellung lösen. Die Entscheidung, was als Selbst-Bild gilt, trifft heute die Künstlerin, der Künstler, sonst wäre es keines.
Mit der Entwicklung vom Handwerker zum selbstbewussten und persönlich erkennbaren Künstler nahm die Zahl von erkennbaren Selbstporträts beständig zu. Sie waren Ausdruck des in der Renaissance gewachsenen Selbstbewusstseins eines Berufsstands, bezogen sich auf die Arbeit, auf antike Vorbilder wie auf neue künstlerische Programme. Eines der frühesten bisher bekannten weiblichen Selbstbildnisse ist das Gemälde von Sofonisba Anguissola (*um 1531/1532 in Cremona, † 1625) „Bernhardino Campi malt seine Schülerin“ von 1559 (Abb. 1).
Was wie die Selbstdarstellung eines Malers aussieht, der den Bildbetrachter bzw. die Bildbetrachterin anblickt, während er ein Porträt von Anguissola malt, ist im Gegenteil die Selbstdarstellung einer Malerin in Verbindung mit einer Hommage an ihren Lehrer. Die Künstlerin malt sich nicht wie in Malerselbstbildnissen dieser und späterer Zeiten bei der Arbeit vor der Staffelei, sondern als „Objekt“ des Malaktes eines anderen. Tatsächlich bestimmt sie in der Realität als Schöpferin dieses Bildes den Malakt. Die vor einigen Jahren erfolgte Restaurierung brachte ein bemerkenswertes Detail ans Licht: In der ursprünglichen Fassung hatte die Malerin ihre Hand unter die Hand Campis gelegt, was eine innigere Verbindung der beiden Personen bewirkt. Es entsteht auch der Eindruck, Anguissola halte selbst den Malstock (vgl. Christadler 2000: 2).

Sofonisba Anguissola - Bernhardino Campi malt seine Schülerin

Abbildung 1: Sofonisba Anguissola: Bernhardino Campi malt seine Schülerin. 1559

Von Anguissola sind viele Selbstbildnisse überliefert, sie reihen sich ein in die künstlerischen Selbstdarstellungen der Zeit. Hervorgehoben seien die Selbstporträts der Kolleginnen Katharina van Hemessen (*1527/28 in Antwerpen, † nach 1583), Anna Maria Schurmann (*1607 in Köln, † 1678), Judith Leyster (*1609 in Haarlem, † 1660). Anguissolas Bild von 1559 ist jedoch ein besonderes Dokument weiblicher Selbstermächtigung. Es entstand ohne Dramatisierung der Frauenrolle einzig durch eine neue Bildfindung und unterstreicht das Selbstbewusstsein der Frau als Künstlerin.

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Der Mythos vom männlichen Künstler

Die genannten Künstlerinnen sind Ausnahmeerscheinungen. Für Frauen früherer Jahrhunderte war es fast unmöglich, als Künstlerin zu arbeiten. Schafften einige es aufgrund günstiger biografischer Bedingungen dennoch, wurden sie bald in der von Männern geschriebenen Kunstgeschichte totgeschwiegen, unabhängig davon, wie erfolgreich sie gearbeitet haben mochten. Dies änderte sich erst, als in den 1970er Jahren mit der feministischen Bewegung in Europa und den USA sowohl Künstlerinnen als auch Kunsthistorikerinnen mit Vehemenz die patriarchalischen Strukturen des Kunstfeldes offenlegten.
Ein besonders ergiebiger Forschungsgegenstand war der Mythos vom Künstlergenie. Die Vorstellung vom genialen Schöpfer schloss Frauen aus; dem weiblichen Teil der Menschheit wurde die passive Rolle der Empfangenden und der Muse zugeschrieben. Obwohl dieser Mythos inzwischen vielfach entlarvt wurde und Frauen sich längst weltweit als Künstlerinnen etabliert haben, ist der aus ihm gespeiste Exklusionsmechanismus nicht überwunden. Ich möchte sogar die Überlegung nahelegen, dass die überkommenen Geschlechterzuweisungen in neuem Gewand weiterwirken. Auffällige Maler unserer Zeit werden mit großer Selbstverständlichkeit „Malerfürsten“ genannt; eine „Malerfürstin“ ist dagegen nicht zu sehen. Einerseits fanden und finden reine Frauenausstellungen statt, steigt auch die Zahl von Publikationen zu „Frauen in der Kunst“. Andererseits führt die Kunst von Frauen im allgemeinen Ausstellungs- und Museumsbetrieb weiterhin ein Randdasein, das nichts über die Qualität der Arbeiten, aber viel über die Perpetuierung überkommener kunsthistorischer Vermittlung aussagt. Auch sind die bedeutenden Museums- und Ausstellungspositionen weiterhin, allen munter vor die Kamera tretenden Kuratorinnen mit Honorarverträgen zum Trotz, mehrheitlich mit Männern besetzt. Hat nicht auf der letzten Biennale in Venedig eine Frau, eine Museumsdirektorin gar, Susanne Gaensheimer, den deutschen Pavillon kuratiert? Ja, auf der Basis der Arbeit eines zuvor verstorbenen Mannes, Christoph Schlingensief. Nicht immer sind die Bedingungen der Kunstarbeit von Frauen so leicht zu entlarven wie in diesem Fall.
40 Jahre nach der zweiten Welle feministischer Dekonstruktionsarbeiten am Künstler-Mythos – die erste rollte bereits vor dem Ersten Weltkrieg – wird heute vom „Geschlecht als einem Routinebegriff“ (Graw 2003: 14) gesprochen. Kann „Geschlecht“ die aufklärerische Funktion von „Feminismus“ übernehmen? Es mehren sich die Zweifel. „Die differenzierten Theoriemodelle, die die feministische Kunstgeschichte ausgehend von der Auseinandersetzung mit dem Künstlerinnenthema entwickelt hat, werden zu Gunsten einer marktgerechten Pseudo-Thematisierung von Geschlechterpositionen in der Kunst ignoriert.“ (Zimmermann 2009: 34) Damit waren auch die Aufklärungs- und Befreiungsakte weniger wirkungsvoll als angenommen. Dabei hatte es so gut begonnen.

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Arbeitsfelder feministischer Selbstrepräsentation in der Kunst

Die feministische Debatte war einer der entscheidenden Motoren für die Suche nach neuem künstlerischen Ausdruck in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auch in vorangegangenen Jahrhunderten wurden gesellschaftliche Entwicklungen zu Impulsgebern für künstlerische Entwicklung. Beispielsweise ist die Pathologisierung des Künstlers als hochsensibles, womöglich psychotisches Wesen nicht denkbar ohne die Entwicklung der Psychologie im 19. Jahrhundert; Selbstporträts der Zeit zeigen, wie Künstler sich den psychologischen Ansatz zu eigen machten, womit sie wiederum die Annahme, sie seien psychopathologisch auffällige Naturen, bestätigten. In den 1960er Jahren, mit dem internationalen Erstarken der feministischen Bewegung, traten Künstlerinnen an, um die männliche Dominanz im Kunstsystem ins Wanken zu bringen. Diese Dominanz drückte sich zuerst, aber nicht nur, in Zahlen aus. Frauen waren als Künstlerinnen in der Vergangenheit wie in der Gegenwart unterrepräsentiert, sie mussten sich den gleichberechtigten Zugang zu Ausbildungseinrichtungen, in Ausstellungen und Museen erst erkämpfen. Noch 1985 demonstrierte die feministische Künstlerinnengruppe Guerrilla Girls vor einer Ausstellung im MoMA in New York, wo ein „International Survey of Painting and Sculpture“ gezeigt wurde, denn zum „Survey“ mit 169 teilnehmenden Kunstschaffenden gehörten nur 13 Künstlerinnen.
Doch der eigentliche Gegner lag tiefer als jede Ausstellungsfläche: im kollektiven Unbewussten, in der tradierten Überzeugung, nur „der Mann“ sei zu schöpferischen Akten fähig, Frauen könnten lediglich niedere und Handlangerdienste leisten und nur in Einzelfällen über ihr Geschlecht hinauswachsen, das Kunstschaffen sei also eng an das Geschlecht geknüpft.
Sowohl die Zuweisung bestimmter Fähigkeiten oder Präferenzen zu einem bestimmten Geschlecht als auch die Zuordnung eines Geschlechts zu einer bestimmten Person, das kann als Ergebnis der bisherigen Genderdebatte festgehalten werden, sind keinesfalls „naturgegeben“, sondern werden in sozialen Aushandlungsprozessen konstituiert. Die Frau gilt nicht als passiv-empfangend, weil sie so „ist“, sondern weil ihr diese Funktion zugewiesen wurde. Über die Gründe dafür ist an anderer Stelle zu sprechen. Die soziale Herstellung von Geschlecht kann mit Judith Butler als performativer Akt beschrieben werden. Performativität besagt, dass menschliche Äußerungen nicht nur Inhalte und Wirkungen transportieren, sondern darüber hinaus selbst als Akteure zu betrachten sind; schon die Sprache konstituiert und perpetuiert die Gender-Realität.
Während nun in der Praxis des Sprechens Geschlechtergerechtigkeit erarbeitet werden kann, etwa durch die konsequente Verwendung männlicher und weiblicher Personenbezeichnungen, ist dies in den Medien der bildenden Kunst deutlich schwieriger. Zwar wurde in der zeitgenössischen Kunst und ihrer Rezeption eine Abkehr von einer werkorientierten Ästhetik mit ihren überkommenen Rollenbildern versucht (klassisches Beispiel: der – männliche – Maler und sein – in der Regel weibliches – Modell), doch das von einzelnen Kunstwissenschaftlerinnen postulierte Paradigma einer performativen Ästhetik bleibt eine Herangehensweise unter vielen.
Vor diesem Hintergrund kann die Selbstverortung feministischer Künstlerinnen auf zwei sich überschneidenden Arbeitsfeldern aufgefunden werden: erstens in der geschlechterreflektierenden Bearbeitung tradierter und daher unvermeidlich geschlechtlich aufgeladener Kunstformen und Kunstthemen und zweitens in der Entwicklung neuer, unbelasteter Ausdrucksmittel. Die überlieferten Formen bildender Kunst (Malerei, Zeichnung, Druckgrafik, Bildhauerei, zuletzt Fotografie) sind nicht per se Ausdruck von Geschlechterungerechtigkeit. Dass auch mit tradierten Mitteln die Ansprüche der Frau auf Selbstbestimmung ausgedrückt werden können, zeigt das erwähnte Selbstbildnis Sofonisba Anguissolas. Die überlieferten Themen jedoch bieten Anlass für gendersensitive Arbeit in Hülle und Fülle. Für Frauen ist kaum ein Museumsbesuch mit „alten Meistern“ möglich, ohne einmal bewundernd vor einem Bild zu stehen und gleichzeitig in der eigenen Würde empfindlich verletzt zu werden durch die Herabsetzung der dargestellten Frauenfigur zum Objekt der Handlung oder der Betrachtung. Selbst ein prachtvolles Madonnenbildnis ist durch die penetrante Passivität der vermeintlichen Heldin mitunter schwer erträglich.
Hier setzte die deutsche Videokünstlerin und Performerin Ulrike Rosenbach (*1943) bei ihrer Arbeit „Glauben Sie nicht, dass ich eine Amazone bin“ (1975, Abb. 2) an.

Ulrike Rosenbach - Glauben Sie nicht, dass ich eine Amazone bin

Abbildung 2: Ulrike Rosenbach: Glauben Sie nicht, dass ich eine Amazone bin. 1975

In ihrer Performance schoss sie mit Pfeil und Bogen auf eine Reproduktion der „Madonna im Rosenhag“ von Stefan Lochner (um 1450), während eine Videokamera sie filmte. Im anschließend produzierten Video überblendete sie das Madonnenbild mit ihrem Bild als Schützin, bis beide Gesichter in eines fielen. Die Schützin schoss damit auf sich selbst, Opfer und Täter wurden ununterscheidbar. Abgesehen von der vehementen Herausnahme des Madonnenmotivs aus der männlichen Traditionslinie ist hier auch das Motiv der Selbstverletzung gegenwärtig, das in der Kunst von Frauen eine auffällige Rolle spielt.
Das zweite Arbeitsfeld gendersensitiv arbeitender Künstlerinnen, die Entwicklung neuer, unbelasteter Ausdrucksformen, führte zu einem regelrechten Quantensprung in der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts. Zunächst eigneten sich Künstlerinnen seit den 1960er Jahren alle in jüngerer Zeit von Männern entwickelten neuen Kunstformen an, auch um sie gekonnt zu persiflieren. Jackson Pollocks durch das Herumspritzen von Farbe mit Assoziationen von Männlichkeit überfrachtetes Action Painting hatte großen Einfluss. Entsprechend reagierten eine ganze Reihe von Künstlerinnen auf diese Kunstform. Lynda Benglis (*1941) zum Beispiel rief Pollocks Technik mit großen Mengen von verflüssigtem und dann auf Galerieböden verschüttetem buntem Latexgummi in Erinnerung, um sie durch den skulpturalen Effekt ihres Materials noch zu übertreffen („Bounce I“, 1969).
Die am stärksten Aufsehen erregenden feministischen Kunstaktionen waren Performances. Das lag in der Natur der Sache. Wenn zu den am häufigsten abgebildeten Figuren der Kunstgeschichte nackte Frauen gehören, dann liegt es nahe, als nackte Frau aus der Objektposition herauszutreten und eigenschöpferisch tätig zu werden. Während Männer erstmals nackt performten, um mit dieser neuen Kunstform vor allem das Kulturestablishment zu schockieren (im Wiener Aktionismus besonders exhibitionistisch Günter Brus bis zu seiner letzten „Zerreißprobe“, 1970), setzten Künstlerinnen ihren bloßen Körper ein, um mehr als sich selbst zu thematisieren: ihr Frau-Sein + die Rolle der Frau als Objekt der Kunst + ihre Schöpferkraft + ihre eigene Individualität + die Verletzlichkeit der äußeren Hülle dieser Individualität, des Körpers + die Bedeutung dieser Aspekte für alle anderen Frauen.
Härter als ihre männlichen Kollegen arbeiteten Künstlerinnen daran, die Rolle des Betrachters infrage zu stellen und damit traditionelle Kunstverhältnisse aufzubrechen. In einem Interview erläuterte die französische Performance-Künstlerin Gina Pane (1963– 1990), weshalb sie in ihrer Serie von „Autoportrait(s)“ 1973 reglos über brennenden Kerzen schwebte und anschließend die Haut um ihre Fingernägel mit einer Rasierklinge ritzte, während Dias von Frauen, die ihre Fingernägel lackieren, an eine Wand projiziert wurden: „Mit diesen Aktionen wollte ich auf radikale Weise das ‚Zeichen‘ des Körpers kenntlich machen, und die Wunde war das wahre Zeichen ‚dieses‘ Körpers, ‚dieses‘ Fleisches. Es war für mich unmöglich, das Bild eines Körpers zu rekonstruieren, ohne dass Fleisch sichtbar wurde, ohne es unverhohlen zu zeigen, bar aller Verschleierungen oder Vermittlungen.“ (Pane 1988, zit. nach Reckitt 2005: 101)

Marina Abramovic - Rythm 0

Abbildung 3: Marina Abramovic – Rythm 0. 1974

Auch andere Künstlerinnen arbeiteten mit Ritzungen; die österreichische Künstlerin Valie Export (*1940) bearbeitete im gleichen Jahr für den Film „… Remote … Remote“ ihre Finger mit einem Papiermesser. Spektakulär war die Performance „Rythm 0“ (sehe Abb. 3)von Marina Abramović (*1946) 1974, in der die Künstlerin ihren Körper stundenlang vom Publikum mit verschiedensten Dingen traktieren ließ, mit Werkzeug, mit Blumen, auch mit Nägeln und Nadeln. Valie Export ließ sich das Bild eines Strumpfhalters auf den Oberschenkel tätowieren, als Kommentar zur sexuellen Unterwürfigkeit der Frau. Allerdings heißen die zuletzt erwähnten Arbeiten nicht Auto- oder Selbstporträts, obwohl sie nur zu sehen sind, indem wir die Künstlerin sehen. Sie sind gleichzeitig Selbstrepräsentanz und Verweis auf etwas außerhalb des Individuums Bestehendes.
In ihrem expliziten „Selbstporträt“ 1967/1970, einem Schwarz-Weiß-Foto, hält Export eine von ihr umgestaltete Zigarettenschachtel in die Kamera, auf der das Markenzeichen zu sehen ist, das fortan ihren in Versalien zu schreibenden Künstlernamen bildet: VALIE EXPORT. Neben dem unübersehbaren Akt der Selbstpositionierung in einer männerdominierten Kunstwelt machte sie damit auch auf eine Entwicklung aufmerksam, die in den nächsten 20 Jahren, im Zuge immer stärkerer Kommerzialisierung, unübersehbar werden sollte: die Verwandlung einer Kunstschaffenden zum Markenzeichen. Bevor andere sie zu einer Marke im Kunstbetrieb erklären konnten, tat EXPORT es selbst.
Der niederländische Konzeptkünstler Rob Scholte (*1958) brachte den Warencharakter der Künstlerpersönlichkeit in seinem „Selbstbildnis“ 1988 auf den Punkt (Abb. 4).

Rob Scholte - Selbstbildnis

Abbildung 4: Rob Scholte: Selbstbildnis. 1988

Es zeigt nichts als das international gültige Copyright-Zeichen. In dem Moment, in dem der Name des Künstlers allein für den Inhalt steht, wird sein Werk unerheblich, zählen nur noch Verkaufszahlen und Renditen. Auf diesen kunstfeindlichen Zusammenhang weist Scholtes „Selbstbildnis“ nüchtern hin. Man kann es albern finden, doch muss man zugeben, dass Scholte ein bemerkenswert „geschlechtsneutrales“ Selbstporträt gelungen ist.
Doch das war ein Vorgriff. Bleiben wir noch einen Moment bei den Feministinnen der 1970er Jahre, die begonnen hatten, „darüber nachzudenken, wie sich Frauen, wenn sie schon vorrangig mit Sexuellem in Verbindung gebracht wurden, diese Assoziation zu Nutze machen könnten, anstatt sich davon unterdrücken zu lassen. […] Ein Großteil der feministischen Kunst dieser Phase war, beflügelt durch die neuen Visionen, außerordentlich witzig und von beißender Satire durchdrungen, besonders wenn es um das Frauenbild in der Massenkultur ging.“ (Phelan 2005: 31)

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Die Auflösung des Selbstporträts als „Selbstporträt“

Indem sie ihren eigenen Körper als Kunstmaterial einsetzten, sprengten Künstlerinnen die tradierten Formen des Selbstbildes; die Grenzen zwischen klassischem Selbstporträt und der Verwendung des eigenen Selbst als Medium wurden fließend. Das entsprach den begrifflichen Relativierungen, die auf verschiedenen Gebieten einsetzten und ein Kennzeichen der Postmoderne sind. Seit Ende der 1960er Jahre wirkte unter anderem Jacques Derridas Kritik des Subjektbegriffs. Der Einfluss der Strukturalisten- und Poststrukturalistendebatte auf das Feld der Kunst war und ist enorm. Selbst wer nicht partizipierte, wurde damit konfrontiert, dass kaum ein Begriff unhinterfragt weiterverwendet werden konnte. Das betraf auch den Begriff des Weiblichen. Die feministische Bewegung, die nie eine homogene gewesen war, teilte sich auch in der Kunstarbeit in unterschiedliche, sich teils ausschließende Stränge. Den Künstlerinnen, die mit weiblich konnotierten Traditionen brachen, stellten sich andere entgegen, die gerade das Weibliche oder gar das Weiblich-Archaische in ihrer Kunst betonten. Wieder andere wollten mit keiner Richtung in Verbindung gebracht werden.
Die 1948 auf Kuba geborene und 1985 in New York gestorbene Künstlerin Ana Mendieta widmete ihr gesamtes Werk der Frage nach geschlechtlicher und ethnischer Identität. 1976 malte sie an einem mexikanischen Strand bei Ebbe ihre lebensgroße Silhouette in den Sand, grub die Fläche aus und füllte sie mit roten Pigmenten (dokumentiert in Farbfotografien der „Silueta“-Serie, 1976, Abb. 4).

Ana Mendieta - Untitled from the „Silueta“-Series

Abbildung 5: Ana Mendieta: Untitled from the „Silueta“-Series. 1976

Bei ansteigender Flut füllte sich ihre Silhouette mit Wasser, erst wurden nur Pigmente fortgespült, mit stärker werdenden Wellen erodierte die gesamte Figur. Mendieta hielt den Prozess in einer Serie von Fotografien fest, die von großer Schönheit der menschlichen Figur und zugleich von ihrer Vergänglichkeit sprechen und damit über die Formgeberin hinausweisen.
Ein bemerkenswert vielschichtiges Werk ist auch das Selbstporträt „Torso – Self- Portrait“ (1963/64, Abb. 5) der Bildhauerin Louise Bourgeois (1911–2010), eine weiß angemalte Bronzeplastik.

Louise Bourgeois - Torso Self-Portrait

Abbildung 6: Louise Bourgeois: Torso – Self-Portrait. 1963/64

Torso hieß ursprünglich der Restkörper einer antiken Skulptur, die im Laufe der Jahrhunderte ihrer Gliedmaßen und ihres Kopfes verlustig gegangen war. In der Renaissance sammelte man antike Bruchstücke sorgfältig, restaurierte sie. Erst durch diese Beschäftigung wurde der Torso zum gestalterischen Ziel; er ist bis heute Thema der Bildhauerei. Bourgeois bearbeitete hier also ein klassisches Frauenabbild, den weiblichen Torso ohne Kopf, ohne Hände, damit nicht denk- und nicht handlungsfähig, aber mit deutlicher geschlechtlicher Ausstrahlung. Obwohl erklärtermaßen keine Feministin, war doch eines ihrer Hauptthemen die Auseinandersetzung mit dem weiblichen und dem männlichen Geschlecht. Was bei diesem Selbstporträt beeindruckt, ist die souveräne Abkehr von jeder Tradition des Selbstbildes, während Bourgeois sich gleichzeitig explizit als Bildhauerin ihrem Stoff zuwendet. Im Mittelpunkt des Werks steht die künstlerische Beschäftigung mit ihrem Thema, nicht die Erwartung einer angenommenen Öffentlichkeit oder die vermeintliche Wirkung, die damit zu erzielen wäre. Träfen wir unvermittelt und ohne Vorkenntnisse auf diese Skulptur, könnten wir auch annehmen, sie sei von einem bildsuchenden Mann angefertigt. Dass sie ein „Selbstbild“ ist, liegt in der Hand der Künstlerin. Damit ist Bourgeois in einer Traditionslinie zu sehen mit Sofonisba Anguissola. Der Selbstausdruck der Künstlerin gelingt in Anwendung tradierter künstlerischer Formen und Mittel und in ihrer souveränen Fortführung.
Für die 2008 in Berlin gezeigte Ausstellung „Selbstportraits aus 30 Jahren“ stellte der Maler und Grafiker Hans Vent (*1934) eine Kaltnadelradierung zur Verfügung: „Maler und Modell II“ (1978, Abb. 6).

Hans Vent - Maler und Modell II

Abbildung 7: Hans Vent: Maler und Modell II. 1978

Dieses Selbstbild nimmt in seiner Figurenkonstellation das vielleicht am stärksten geschlechterkonnotierte Motiv der Kunstgeschichte auf: den handelnden Mann und die behandelte Frau, sein Objekt. Vent studierte in den 1950er Jahren in der DDR Malerei, lebte im Entstehungsjahr der Radierung in der DDR und hat meines Wissens an keiner feministischen Debatte teilgenommen. Seine Behandlung des Themas ließ daher aus feministischer Sicht das Schlimmste erwarten. Entstanden ist eine dramatische kleine Szene, in der das Modell, die nackte Frau, als die Dynamische, die Handelnde auftritt und der Maler, der arbeitende Mann, ein von der Situation Getriebener, ein Ausgelieferter zu sein scheint. Mit präzise gesetzter Nadel kehrt Vent die Geschlechterverhältnisse kurzerhand um, während er im überlieferten Sujet bleibt.
Drei Selbstporträts, die unterschiedlicher nicht sein könnten. In der Fachliteratur ist gut dokumentiert, dass sich während des gesellschaftspolitischen Aufbruchs der 1960er und -70er Jahre die künstlerischen Möglichkeiten rasant erweitern, bis wir schließlich sogar ein „Selbstbild ohne Selbst“ (Weinhart 2004) gezeigt bekommen. Die Auflösung künstlerischer Formen, oder genauer: die Auflösung der Grenzen zwischen den Formen, schreitet voran, während gleichzeitig tradierte Formen und Themen weiterhin bearbeitet werden.
Hierin liegt ein Charakteristikum der Kunst der letzten Jahrzehnte. Diese Auflösung ist keine Besonderheit der bildenden Kunst, sie ist hier nur besonders schön zu sehen. Eine vergleichende Untersuchung dieses Aspekts für die Musik und andere Künste bietet sich an. In der Literatur beispielsweise ist an heutigen Selbstdarstellungen gut ablesbar, dass Schriftstellerinnen und Schriftsteller bewusst die Grenze zwischen Fiktion und Realität verwischen. „Die Ich-Erzählung unter eigenem Namen wird in einer Zeit, in der die Realität wie Fiktion erscheint (und umgekehrt) und Plagiat und Original aus-tauschbar sind, zur eigenen Gattung. […] Wirklichkeit, Wahrheit, Erfindung – es ist gleichviel“, fasst ein Rezensent die Entwicklung zusammen (Urban-Halle 2011).

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Zur Durchsetzung der Rezeptionsästhetik

In den 1920er Jahren wurde die Vorstellung von Androgynität ein wichtiges Motiv in der Kunst, wofür die Selbstporträts der Fotografin Claude Cahun (1894–1954) als Beispiel dienen können. Radikal verfuhr später die US-amerikanische Fotografin Nan Goldin (* 1953), die die Grenze zwischen ihrer künstlerischen Arbeit und ihrem Privatleben aufhob und in den 1970er Jahren ihre Freunde und ihr eigenes Leben zu fotografieren begann, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie womöglich auch hässliche private Szenen veröffentlichte. Berühmt wurde das Foto, das Goldin von sich selbst machte, nachdem sie von ihrem Liebhaber zusammengeschlagen worden war („Nan one month after being battered“, 1984). Cahun hatte sich stilisiert, die Frage, welchem Geschlecht sie sich zugehörig fühlte, war nachrangig. Goldin zeigte ihre homosexuellen und lesbischen FreundInnen mit großem Respekt, unterschiedliche geschlechtliche Orientierungen wurden zu einem selbstverständlichen Thema der Kunst.
In Differenz zur allgemeingesellschaftlichen Thematisierung der Genderproblematik suchen viele Künstlerinnen und Künstler heute nach einem direkten, autobiografischen Ausdruck ihrer eigenen Geschlechtlichkeit. Eine nachwachsende Generation richtet sich selbstbewusst auf dem von Feministinnen bestellten Feld der Kunst ein. Die Engländerin Tracy Emin (*1963) errichtete 1995 in einer Ausstellung ein Zelt, auf dessen Innenwände sie mit Stoffbuchstaben Namen geschrieben hatte: „Everyone I Have Ever Slept With 1963–1995“. Im gleichen Jahr veröffentlichte Emin ihr Video „Why I Never Became a Dancer“, indem sie von den sexistischen Demütigungen erzählt, die sie als 14-Jährige in ihrer englischen Heimatstadt Margate erlitt. Das Problem bei diesen Selbstdarstellungen ist, dass das Kunstwerk eng an seine Urheberin gebunden bleibt und voyeuristisches Interesse weckt, statt das Thema genauer zu bearbeiten. Inzwischen hat die anfängliche Bewunderung für die vorgeblich authentische Selbstentblößung Emins der kritischen Würdigung ihres Körpereinsatzes als Mittel zur Positionierung im Kunstbetrieb Platz gemacht (Härtel 2010). Emin ist heute bei Weitem nicht die einzige Künstlerin, die neben der bereits erwähnten Pipilotti Rist ihr Frau-Sein konsequent einsetzt.
Die Hinweise mehren sich, dass Ungleichbehandlung und Diskriminierung von Frauen weiterhin bestehen – auch in sogenannten höher entwickelten Gesellschaften und ungeachtet der deutlich gestiegenen Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten für Frauen. In den USA wie in Europa ist sogar ein Rollback zu konservativen Positionen zu verzeichnen, und in täglichen Fernsehserien sowie der Werbung feiern Rollenklischees ein Wiederauferstehen, die mit der feministischen Kritik der 1970er Jahre eigentlich ad acta gelegt waren. Doch statt den Rollback wirkungsvoll zu kritisieren, scheinen einige jüngere Künstlerinnen es sich auf dem in früherer feministischer Arbeit Erreichten bequem zu machen. Ein Überblick über Frauenaktionskunst der letzten 20 Jahre hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack. „Das Label ‚Frau-Sein‘ und seine künstlerische Verarbeitung hat sich […] in den letzten Jahren etabliert und popularisiert. Damit einhergehend erfuhr die Thematik nicht selten eine Komplexitätsreduktion“, konstatiert die Kunstwissenschaftlerin Rachel Mader und weist darauf hin, „wie oberflächlich und banal Geschlecht im künstlerischen Umfeld mitunter diskutiert wird und dass gerade diese Banalisierung zum Erfolg führte“ (Mader 2009: 63).
Es scheint, als hätte geschlechtersensitive Kunst sich einer Rezeptionsästhetik unterworfen, in der die beabsichtigte – und erzielte – Wirkung höher angesehen ist als die künstlerische Bewältigung einer selbstgestellten Aufgabe. Was bedeutet das für das Selbstbild in der Kunst? Es bedeutet, dass die künstlerische Arbeit immer stärker in den Hintergrund gerät und verdrängt wird vom Reflex auf gesellschaftliche Ereignisse und Entwicklungen. Künstlerinnen und Künstler geraten unter Druck, sich so darzustellen, dass ihre Selbstdarstellung problemlos rezipiert werden kann, Provokationen wie Jonathan Meeses Hitlergruß eingeschlossen. Ihre Positionierung im Kunstbetrieb wird damit wichtiger als die Frage, wie sie sich in ihrer Arbeit sehen und reflektieren. Ihr Selbst könnte unscharf werden, gar sich auflösen im Spiegel der Gesellschaft.

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Selbstermächtigung bis aufs Messer

Die kritisierte Benutzung ursprünglich feministischer Impulse bildet einen von mehreren Strängen im gegenwärtigen geschlechtersensitiven Kunstschaffen. Längst ist der Zug der Genderdebatte weitergefahren zur Analyse von Diversity und Intersektionalität als neuen gleichstellungspolitischen Paradigmen, und wie bei der feministischen Arbeit des letzten Jahrhunderts ist die Kunst dem Allgemeinwissen ein kleines Stück voraus. Die neuesten sozio-biologischen Erkenntnisse von einer Mehrgeschlechtlichkeit des Menschen werden noch kontrovers diskutiert, wofür das Buch „Making Sex Revisited“ des Geschlechterforschers Heinz-Jürgen Voß ein auch außerhalb von SpezialistInnenkreisen rezipiertes Beispiel ist (Voß 2010), da bearbeiten KünstlerInnen bereits die tradierten Vorstellungen von geschlechtlicher Eindeutigkeit und Heteronormativität und nutzen die neuen Möglichkeiten der Biotechnologie, um zu GestalterInnen ihres Geschlechts zu werden.
Eine der herausragenden Gestalterinnen ihrer selbst ist die französische Künstlerin Orlan (*1947). Seit 1990 verändert sie in einer Serie sorgsam dokumentierter Performance-Operationen ihren Körper und ihr Gesicht. Die ChirurgInnen erhalten ein von ihr am Computer generiertes Modell, nach dem sie mit Implantaten, Fettabsaugungen etc. zu arbeiten haben. Am Ende soll ein Kunstbild entstehen, das Gesichtsteile verschiedener berühmter Kunstwerke enthält, die Stirn der Mona Lisa beispielsweise. Die Selbstpräsentation wird „zum blutigen Ernst“ (Düchting 2001: 57), die ZuschauerInnen können die Operationen verfolgen, live oder per Video. Ihr sukzessive verändertes Äußeres präsentiert Orlan in verschiedenen Installationen (Abb. 7: Orlan vor „Omniprésence“ 1993/94).

Orlan vor ihrer Installation Omniprésence (Entre-Deux)

Abbildung 8: Orlan vor ihrer Installation Omniprésence (Entre-Deux). 1993/94

Es ist, als hätte die Künstlerin Michel Foucaults verheißungsvoll klingende Vision vom Menschen, der sich beständig neu erfinden könne, wörtlich genommen. Unter dieser mittels Werbesprache inzwischen sprichwörtlich gewordenen Vision vom Sich-selbst Erfinden

„sind gewusste und gewollte Praktiken zu verstehen, mit denen die Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selber zu transformieren, sich in ihrem besonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen, das gewisse ästhetische Werte trägt und gewissen Stilkriterien entspricht.“ (Foucault 1989: 18)

Nach dieser Logik müssen wir uns nicht altmodisch fragen, wie viel Orlan in ihren modifizierten Porträts steckt, sondern wir dürfen davon ausgehen, dass sie immer die Person zeigt, zu der sie sich machen möchte. Nach dieser Logik ist nicht nur das Aussehen, sondern auch das Geschlecht frei wählbar geworden.
Häufig wird in diesem Zusammenhang auf Del LaGrace Volcano als „gender variierender“ bildender Künstler verwiesen, so häufig, dass man versucht ist anzunehmen, insgesamt seien nicht viele KünstlerInnen in diesem Bereich aktiv. 1957 als Frau geboren, beschloss Volcano, ausgebildete(r) Fotograf(in), in seinen oder ihren 30ern, als männlich und weiblich zu leben. Im Gegensatz zum Konzept der Weibliches und Männliches in Eins bringenden Androgynität sucht Volcano für sich zwei Geschlechter auszufüllen, das männliche und das weibliche zugleich, was ihm oderihr mittels Kostümierungen und Inszenierungen auch verblüffend gut gelingt (Volcano 2005). Damit ist er oder sie gerade – zu eine Personifizierung der Transgender – und Queer-Konzepte. Sein oder Ihr ganzes Leben kann als Kunstwerk angesehen werden, private Fotografien und inszenierte Selbstbilder werden, wie es bereits bei Nan Goldin angelegt war, ununterscheidbar. Ein wichtiger Punkt, der in der Betrachtung dieser Selbstbilder nicht unterschlagen werden darf, ist die Rückwirkung auf die Gesellschaft: Indem sie ihre vermeintliche Privatsache öffentlich gestalten, haben KünstlerInnen wie Volcano und Goldin zu einer größeren Bekanntheit und letztlich Akzeptanz differenter Geschlechtervorstellungen beigetragen.

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Die Relativität der freien Wahl

Eine Steigerung beider Ansätze, der blutigen Verstümmelung und Neuzusammensetzung Orlans und der die Geschlechtergrenzen auflösenden unblutigen Arbeit Volcanos, bedeutet die Arbeit des Musikers und Performance-Künstlers Genesis P-Orridge (*1950). Nachdem er sich in den 1990er Jahren der Geschlechterthematik zugewandt hatte, begann er im Jahr 2000 zusammen mit seiner Frau Jacqueline Breyer alias Lady Jaye die systematische Angleichung zweier sich liebender Personen aneinander. Beider Ziel war, gemeinsam ein androgynes Zwitterwesen zu erschaffen, indem die eine Person der anderen immer ähnlicher wird. P-Orridge ließ sich umoperieren zur „S/He“, Brüste implantieren, die Haut straffen, ein künstliches Gebiss anlegen und anderes mehr.
Zynisch könnte man formulieren: Wie sich die Grenzen künstlerischer Genres auflösen, so lösen sich auch die Grenzen des menschlichen Körpers auf; Frau wird Mann, Mann wird Frau oder beides gleichzeitig. In der Kunstsoziologie ist seit Kurzem die Rede vom „Hybrid-Künstler“ als neuem Typus. Hier ist jedoch zu fragen, ob die Anwendung des von der Autoindustrie popularisierten Begriffs „hybrid“ die Beschreibung und Analyse nicht eher erschwert als erleichtert.
Die Transformation der Geschlechtlichkeit erscheint als Akt freien Willens, mehr noch: als Ausdruck völliger Freiheit gegenüber biologischen Vorgaben. Aber ist sie das immer, ein freier Akt? Im Fernsehen zeigen Reality Soaps Tag für Tag, wie Menschen ihr Leben „in die eigene Hand nehmen“. „Entdecke die Venus/den Tiger/das Talent in dir!“ oder gleich: „Erfinde dich selbst!“, so lauten die Werbebotschaften. Auch der eigene Körper wird Verfügungsmasse, als hätte es nie Kritik am Schönheitswahn oder an der Degradierung des Menschen zum Konsumenten gegeben. In der Privatsender-Show „Extrem schön! – Endlich ein neues Leben“ lassen sich Menschen von SchönheitschirurgInnen und TherapeutInnen laut Sender RTL II „zu einem besseren Leben“ verhelfen. Die Sendung erreicht 2011 zweistellige Einschaltquoten; den Verband der SchönheitschirurgInnen freut’s.
Es berührt merkwürdig, dass gerade KünstlerInnen an diesem Operationsboom teilhaben, der Berufsstand, der seit dem Ende des Feudalismus für seine Unabhängigkeit gerühmt wird. P-Orridge und andere betonen, dass sie die Manipulationen aus eigenem Antrieb vornehmen. Doch was bedeutet „eigener Antrieb“ für AkteurInnen, die sich innerhalb des real existierenden Kunstbetriebs bewegen? Vieles spricht für die Beobachtung der Soziologin Renata Salecl, dass KünstlerInnen heute weniger frei in ihren Entscheidungen sind als gemeinhin angenommen. Salecl (2010: 12) konstatiert „an increase of anxiety in today’s society“. Mittels Handlungssituationen, die sie bei Jacques Lacan entlehnt, erläutert sie die Bedingungen vermeintlicher Entscheidungsfreiheit. Das Problem sei nicht die Frage, ob es eine Wahlmöglichkeit gibt oder nicht, sondern wie die Handlungsbedingungen aussehen, innerhalb derer das Individuum seine Freiheit zu wählen wahrnimmt. Ausgerechnet im besonders freien Betätigungsfeld der Kunst unterlägen die Akteure einem von Salecl als „forced choice“ diagnostizierten Handlungsdruck: „Any type of artistic, creative freedom also follows this logic of forced choice – the artist always ‚chooses‘ his or her own way of sublimating external and internal deadlocks that he or she is dealing with.“ (Salecl 2010: 15)
Um nicht mit diesem deprimierenden Ausblick enden zu müssen, sei auf die Selbstbilder der US-amerikanischen Malerin Joan Semmel (*1932) hingewiesen. Abseits der wegen ihrer Auffälligkeit die Kulturmedien überproportional beschäftigenden Queer- und Transgender-Kunst finden sich bedeutsame geschlechtersensitive Arbeiten wie ihre. In einer einfachen Arbeitsanordnung schaltet Semmel den traditionell männlichen Blick auf den gemalten weiblichen Körper aus. Sie malt sich seit vielen Jahren selbst, wie sich eine Frau sieht, im Blick von oben herab auf die Brüste, den Bauch, bis hinunter zu den Füßen. In den letzten Jahren kommen Spiegelbilder hinzu, in denen auch der Kopf zu sehen ist. In ihrem Gemälde „Knees Together“ (2003, Abb. 8) steht ihr gealterter, gerundeter Körper im Mittelpunkt.

Joan Semmel - Knees Together

Abbildung 9: Joan Semmel: Knees Together. 2003

Interessanterweise sieht sie die Selbstbetrachtung nur als Anlass, nicht als alleinige Hauptsache ihrer künstlerischen Arbeit. „Letztendlich geht es in meiner Malerei um das Spiel und das Verhältnis von Farben. Die Erotik benutze ich nur als Aufhänger für meine Kunst.“ (Semmel 2005)
Der Hinweis auf Arbeiten wie die von Joan Semmel kann als nostalgischer Rückgriff missverstanden werden. Betrachtet man jedoch die enge Bindung mancher zeitgenössischer Kunstäußerungen an die sich fortlaufend diversifizierende Genderdebatte, dann bietet Semmels davon freie Konzentration auf künstlerische Fragen womöglich Potenzial für einen utopischen Entwurf. Vielleicht besteht die Herausforderung der nächsten Jahre darin, ein geschlechtsbewusstes künstlerisches Selbstbild zu gestalten, das auch außerhalb tagesaktueller Debatten gelesen werden kann.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: http://en.wikipedia.org/wiki/File:Selfportrait_with_Bernardino_Campi_by_Sofonisba_ Anguissola.jpg
Abb. 2: Abb. übernommen aus: Reckitt, Helena. (Hrsg.). (2005). Kunst und Feminismus. Berlin: Phaidon
Abb. 3: Abb. übernommen aus Twitter
Abb. 4: Abb. übernommen aus: Düchting, Susanne. (2001). Konzeptuelle Selbstbildnisse. Essen: Klartext
Abb. 5: Abb. übernommen aus: Through the Looking Glass. Women and Self-Representation in Contemporary Art. Ausstellungskatalog. (2003). Pennsylvania
Abb. 6: Abb. übernommen aus: Chicago, Judy & Edward, Lucie-Smith. (2000). Der andere Blick. Die Frau als Modell und Malerin. München: Knesebeck
Abb. 7: Abb. übernommen aus: Selbstportraits aus 30 Jahren. Galerie Mitte 1978 bis 2008. Ausstellungskatalog. (2008). Berlin
Abb. 8: Abb. übernommen aus: Düchting, Susanne. (2001). Konzeptuelle Selbstbildnisse. Essen: Klartext
Abb. 9: Abb. übernommen aus: Through the Looking Glass. Women and Self-Representation in Contemporary Art. Ausstellungskatalog. (2003). Pennsylvania

Literaturverzeichnis

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Düchting, Susanne. (2001). Konzeptuelle Selbstbildnisse. Essen: Klartext
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Reckitt, Helena. (Hrsg.). (2005). Kunst und Feminismus. Berlin: Phaidon
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Zimmermann, Anja. (2009). „Kunst von Frauen“. Zur Geschichte einer Forschungsfrage. FKW// Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur, 48, 26–36

Zur Person

Heike Friauf, M.A., promoviert am Institut für Soziologie der TU Dresden mit einer Arbeit zur „Politisierung der Ästhetik“, arbeitet als Kultursoziologin zu Fragen von bildender Kunst und Feminismus
E-Mail: HeikeFriauf@web.de

GENDER, Heft 1, 2012, S. 54–74

http://www.budrich-journals.de/index.php/gender/article/viewFile/17928/15603

PDF:
Heike Friauf – Zwischen Realität und Utopie: Geschlechterkonzepte und Selbstbilder in der zeitgenössischen bildenden Kunst

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