Amine Haase – Chambres d’amis
Chambres d’amis
Gent, Museum van Hedendaagse Kunst, 21. Juni – 21. September 1986
In einer Genter Wohnung läuft ständig das Wasser in der Küche: „From reliable source“ (Aus vertrauenswürdiger Quelle) beteuert die Schrift Weiß auf Schwarz über dem Wasserhahn. Das eintönige Fließen trägt seine eigene Spannung in das Haus – und davor, wo das Leitungswasser zwischen wildwucherndem Gras im Rinnstein versickert. Unterm Pflaster ist der Strand. In Belgien muß man immer auf alles gefaßt sein. Über der Tür zur der Küche mit dem vertrauenswürdigen Wasser hängt Picassos „Stierkopf“, nicht in Bronze, sondern so nachgemacht, daß er als Collage von gefundenen Objekten wieder Sinn hat: ein Fahrradsattel und -lenker. Der Bewohner dieser Zweizimmerwohnung (in die man wie in Kajüten im ersten Stock über eine schmale Stiege gelangt) hat Phantasie – und die Kunst, mit der er umgeben ist, wird ein Bestandteil von ihr. Auch die, die derzeit nur zu Gast in seinem kleinen Haus ist.
Denn Pat Jacobs, der in der Bijlokevest wohnt, ist einer der fünfzig Genter Bürger, die Künstlern ein „Gästezimmer“ zur Verfügung gestellt haben, damit sie dort ein Kunstwerk nach ihrer Inspiration und Vorstellung für drei Monate unterbringen können. „Chambres d’amis“ ist der Titel einer Ausstellung, die Jan Hoet, Leiter des Museums van Hedendaagse Kunst Gent, fast sechs Jahre lang vorbereitet hat, und die mit Sicherheit unseren Blick auf Ausstellungen – ihre Ziele, Möglichkeiten, Wirkungen – verändern wird. Es ist nicht nur eine der originellsten Präsentationen und aufregendsten Erlebnisse auf unserem Kunst-Globus zur Zeit. Und das trotz – zwangsläufiger – Mängel, die nicht verschwiegen werden sollen. Der neue Blickwinkel aus den privaten „Gästezimmern“ bietet so viele neue Ansätze, über Künstler, Kunst, Kunstbetrieb nachzudenken, daß Einwände (gegen die nicht besonders junge und progressive Auswahl der Beteiligten zum Beispiel) reine Beckmesserei sein muß. Vielmehr bewundert man Organisation (in jedem „Gästezimmer“ wird man von einem Center Studenten empfangen, der auch die Kunst erläutern kann), Teamgeist aller Beteiligten (die Künstler erhielten kein Honorar) und kommunales sowie privat-mäzenatisches Engagement (für das – alles in allem – Eine-Millionen-DM-Projekt).
Die Idee, Kunst 1986 nicht in dafür geplanten Häusern – Museen, Kunsthallen und ähnlichem – zu präsentieren, sondern im privaten Rahmen, hat soviel Zündstoff, daß auch der Besucher dieser „Chambres d‘ amis“ in Gent umdenken muß. Nur wenn er frei von herkömmlichen Vorstellungen – so unkonventionell wie der Erfinder des Projekts Jan Hoet – die Kunst-Gästezimmer besucht, wird er neue Erkenntnisse mit nach Hause tragen können. Er wird darüber nachdenken, wie die eingeladenen Künstler mit der Gast-Idee umgegangen sind – großzügig, egoistisch, indifferent? Was er von der Kunst – dementsprechend – halten soll: ist sie flexibel, starr, kompliziert? Er wird seinen eigenen Umgang mit Kunst überdenken, wird sich Gedanken machen, wie die offiziellen Kunst-Institute mit den ihnen anvertrauten Dingen umgehen und welche Rolle der Markt dabei spielt. Schließlich wird er das Umfeld, die Stadt und ihre Bewohner, neu sehen. Alle Mosaiksteine, aus denen sich unser Bild von der Kunst scheinbar so felsenfest zusammensetzt, geraten beim Besuch der „Chambres d‘ amis“ in Gent in Bewegung. Ein neues Bild, unseren Sehgewohnheiten entrückt, zu finden, ist nach der Reise leichter geworden. Denn nichts steht mehr an seinem angestammten Platz.
Auch in den Wohnungen der Genter Kunst-Gastgeber steht kaum noch etwas da, wo es vor dem Besuch der fünfzig eingeladenen Künstler stand. Bei Pat Jacobs mit dem ständig fließenden Wasser über der Aluküchenspüle schon. Robin Winters und Rob Scholte – der amerikanische und der holländische Künstler, die dem Moralphilosophen aus Gent ihre Kunst als Gäste brachten – veränderten kaum etwas in dem Gelehrtenheim. Sie stellten zwei afrikanischen Skulpturen Gläser mit Papierschiffchen auf den Kopf: Eine freundliche Frechheit gegenüber dem Sammler von Lanzen, Leser von Freud und Lacan, dem Freund von Zimmerpalmen. Winters hat auch sein zweites Gästezimmer kaum verändert – zumindest nicht sichtbar: Bei Chantal de Smet hat er in einzelne Bücher ihrer Bibliothek kleine Zeichnungen gelegt. (Sichtbar sind Zeichnungen von Winters im Museum Gent.) Kleiner hat sich keiner der Künstler-Gäste gemacht.
Viele haben sich, im Gegenteil, recht groß vorgeführt. Die Gründe dafür sind bestimmt recht unterschiedlich. Bei Rob Scholte war es eine Lovestory: Gleich fünfzehn Künstler wollten Gäste einer attraktiven Genter Gesangslehrerin werden. Aus der Zwickmühle, in die der zur endgültigen Entscheidung berufene Ausstellungs-Verantwortliche Hoet ob dieser Massen-Begeisterung geraten war, löste sich die Dame selbst. Sie reiste nach Amsterdam und bat Rob Scholte zu sich. Der malte ihr den Flügel an die Wand, mit dem sie ihre Gesangsschüler begleitet. So wurden es also zwei.
Des Gastgebers Höflichkeit verlangt gewiß, dem Gast so viel Platz einzuräumen, wie er braucht – oder glaubt zu brauchen. Allerdings hat man zum Beispiel bei Gilberto Zorio oder auch bei Mario Merz den Eindruck, als verdränge ihre Kunst den Bewohner aus seinen Räumen. Zorio schreibt im Katalog über das Riesenboot, das er in die Wohnung seines Malerkollegen Geert de Cloedt hängte: es nehme die ganze Länge der Wohnung in Anspruch „mit seinem gesamten Körper, seinem leichten und schweren Gleichgewicht, mit all seinem Heimweh nach Vergangenheit und Zukunft“. Sehr schön; nur die Gegenwart ist bestimmt recht unbequem. Ähnlich egoistisch macht sich der „Tisch, der Skulptur wird“ von Mario Merz im Haus von Eric Messens breit. Um die Kunst kommt der Hausherr bis Ende September nicht herum.
Allerdings erscheint dieser Anspruch und das unübersehbare Bestehen auf Bestätigung sympathischer als eine Gleichgültigkeit, die sich zum Beispiel darin äußern kann, daß der Gast sich bei seinem Gastgeber gar nicht oder kaum blicken ließ. Bruce Nauman hätte seine Neon-Zeichnung zum Thema „100 Leben und Sterben“ überall aufhängen können. Aber sie ist – zusammen mit zwei Video-Monitoren im Dialog – beherbergt in einer der elegantesten Wohnungen am zentralen Park von Gent. Die Enttäuschung über einen Künstler, der einen Assistenten zur Ausführung seines Werkes schickt anstatt selbst zu erscheinen, ist sehr verständlich im Katalog mit Bemerkungen von zwei Kindern belegt: Arthur und Winnie äußern zwar großzügiges Verständnis für Sol LeWitt und sein business – aber wundern tun sie sich schon über die Assistenten-Kunst, an die sie schließlich selbst mit Hand anlegten.
Über die Kunst einiger Gäste mag man sich tatsächlich wundern: Wie starr so manches Prinzip auf die neue Situation übertragen wird. Zum Beispiel Bertrand Laviers grober Nach-Pointillismus auf Tapete und gerahmter Tapete (= Bild) in einer Parterre-Wohnug im ältesten Genter Viertel an der Plotersgracht. Und – natürlich – NieleToronis Pinselabdrücke. Die blauen Tupfer an der Tür und Innenwand eines winzigen Fremdenzimmers passen irgendwie ganz gut. Und Toroni erweiterte das Fremden- zum Gästezimmer (damit auch seine Tupfer-Idee) mit einer Flasche Whisky, die dem Besucher zur Verfügung stehen soll. Manches ist nur Gag (Panamarenkos Geld-Käfig) oder nur unverändertes Werk am veränderten Ausstellungsort (Dan Grahams Spiegel/Glas-Pavillion im Garten des Neubaus eines Architekten oder das metallene, abstrahierte Cello von Royden Rabinowitch in der Wohnung eines Journalisten). Daniel Buren zeigt sich konsequent in seiner unbeugsamen Werk-Sturheit: er zog mit seinem Doppelbett in fuchsia-farbenem Streifendekor mitten ins Museum.
Manchmal ist auch nur das Gleichgewicht gestört zwischen der Raumsituation und der Gastidee. Leichtes Übergewicht gegenüber den vier Wänden – ihrer Atmosphäre, Struktur, Umgebung, Benutzung – zeigen einige Inszenierungen: Von Reiner Ruthenbeck (der in einen dunklen Raum eine rote und eine blaue Glühbirne hängt und per Tonband den Lärm einer „Pause“ einspielt). Von Heike Pallanca (die in einem noch nicht zu Ende renovierten Filmhaus eine „Einladung zum Dinner“ an festlich gedecktem Tisch simuliert). Von Michael Buthe (der in einem leerstehenden Erdgeschoß den Wänden mittelmeerblaue Streifen aufmalte, überarbeitete Fotos des Italien-sehnsüchtigen Gloeden aufhängte und dieses fließende Leben mit totem Gebein, künstlich von einem am Boden liegenden Kronleuchter erhellt, konfrontiert). In eine völlig andere Welt – ohne Rücksicht auf die Gasträume – versetzt die Dramatisierung der „Chambres d’amis“ zur „Chambre d’ennemi“ von Jacques Charlier. Ein schwarz-livrierter Diener empfängt die Besucher, läßt sie in einem Wartezimmer die Kuriositäten -Medusenhäupter, Bücher über Magie – bewundern und öffnet den Vorhang zur Hauptszene: Ein blondes Mädchen in roter Jacke, weißer Hose, schwarzen Stiefeln hält eine Peitsche; über ihr reißt ein schwarzer Drache sein Maul auf, und aus dem roten Schlund scheint Rauch zu kommen, der das Ambiente mit umgefallenem Stuhl und teuflischen Bildern vernebelt. Der Alptraum entläßt seine Kinder.
Aber nicht der belgische Alltag. Aus manchem der Gast-Häuser stolpert man wie benebelt – und hat doppelt so große Augen für die Wirklichkeit als vorher. Tatsächlich sieht man so manches in neuem Licht. Kunst verwandelt unseren Blick: Kazuo Katase hat vor das Terrassenfenster einer chicen Penthouse-Wohnung an der Frère Orbanlaan einen Filter geklebt, der alle Rottöne schluckt. Der Besucher seines Gästezimmers verwandelt sich in einen grünhäutigen Zombie. Jannis Kounellis lenkt mit ganz sparsamen Mitteln (die blau und gelb getönten sowie das offenstehende Fenster sind leider zu dezent in der von mittelmäßiger Kunst überquellenden Gast-Wohnung) den Blick des Besuchers auf Gents berühmte Kathedrale. Und Kunst verändert unsere Vorstellungen vom Museums- und Handelsobjekt Kunst: Joseph Kosuth beschrieb die Wände von Praxis, Wartezimmer und Treppenhaus eines Psychiaters mit Texten von Sigmund Freud, die dann mit säuberlich schwarzen Streifen wieder ausgestrichen wurden. Die Arbeit bleibt, bis ein neuer Anstrich nötig ist, in dem Haus an der „Coupure“, der traditionellen Promenade (heute eher Auto-Rennstrecke) entlang des baumgesäumten Kanals. Oder Giulio Paolinis Installation in einem der Nachbarhäuser: Wird man Ende September einfach die weißen Baumwollhüllen von Sofa und Sessel ziehen und so tun, als komme man aus den Ferien zurück? Die Staffelei kann in die Ecke gestellt werden; was aber wird aus dem Bücherschrank, in dem Paolini auf die weißen Buchrücken die Umrisse der leeren Staffelei gezeichnet hat?
Bleiben werden die freundschaftlichen Gesten der eingeladenen Künstler – von der Hommage an den Konstruktivisten Servranckx, die Oswald Oberhuber sehr sympathisch bei Gerard und Marie-Louise Moyaert in der Fortlaan präsentiert, bis zu dem Signal der Versöhnung, die Francois Hers mit seiner Fotografie gegenüber einem Maler der Jahrhundertwende dokumentiert. Und Künstlerarbeiten, die wie ein etwas trauriges Streicheln der Kinder sich ausnehmen, deren Haus man zum Teil okkupiert – und die doch Platz zum Leben brauchen, mehr als die Erwachsenen. Nach Tschernobyl mehr denn je. Dafür plädiert Luciano Fabro mit einem ellenlangen Stück asymmetrisch geschnittenem weißen Stoff, das die Kinder im Haus Willem Tellstraat 6 zum Spielen benutzen dürfen. (Die gehen – bei dem Besucherandrang in allen Gästezimmern – allerdings eher in Deckung, wie übrigens die meisten Genter Gastgeber. Das Empfangskomittee besteht in den vom Museum abgesandten Studenten.) Paul Thek, der ein buntes Spielzeug-Ambiente – mit Badewanne? Schaukel, Papierdrachen und Plastikraketen für die Kinder in der St. Pietersnieuwstraat 109 baute – erlaubt auch den Besuchern mitzuspielen, falls sie Lust dazu haben im Schatten der Geschosse. Thek stellte im Garten des Hauses Dürers „Melancholia“ nach, abstrahiert auf den „Stein des Philosophen“ und einige abtrakte Linien, die er mit einer Leiter nachzog.
Die einzige Arbeit an einem öffentlichen Platz ist die von Maria Nordman in einem leerstehenden Gebäude nahe dem Femdenverkehrsamt. Die Raum-Konstruktion erinnert nicht nur an den ruinösen Zustand der Textil- und Hafenstadt Gent, sondern auch daran, daß Uwe M. Schneede 1983, als er noch Direktor des Hamburger Kunstvereins war, einen ersten Anlauf zu vergleichbaren Rauminszenierungen genommen hat. Seine „Räume“ waren in der Mehrzahl öffentliche – ein Schwimmbad, eine Schule, ein Lagerhaus im Hafen – ; aber die Idee ist durchaus vergleichbar. Auch bei der Hamburger Ausstellung lernte man eine Stadt mit neuen Einblicken kennen sowie die Kunst und ihr Umfeld unter neuen Aspekten betrachten.
Die privaten Gesichtspunkte der Genter „Chambres d‘ amis“ fügen dem eine neue Dimension hinzu. Und Gent ist nicht Hamburg. In Belgien entdeckt man mit jedem Schritt einen neuen Planeten, die Heimat der Magritte, Delvaux, Ensor und – um bei der Aktualität zu bleiben – Charlier. Wo in der Welt findet man ein Hotel, in dem es Mitternacht einen totalen Stromausfall gibt, weil irgend jemand „gleichzeitig den Fernseher und einen Tauchsieder eingeschaltet hat“ – wie der Portier auf besorgte Nachfrage zu antworten wußte?
Die „Chambres d’amis“ sind in zwei „Rundgänge“ gegliedert; der „rote“ ist zu besichtigen: Dienstag, Donnerstag, Samstag; der „blaue“: Mittwoch, Freitag, Sonntag – jeweils von 10 bis 18 Uhr. Der sehr schöne Katalog kostet 850 BF.
Kunstforum International, Bd. 85, 1986, S. 256
https://www.kunstforum.de/artikel/chambres-damis/
Meer informatie:
https://robscholtemuseum.nl/?s=Chambres+d%E2%80%99ami
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