Burkhard Brunn – BACKSTAGE: die Rückseite / the rear side (2)

Kirstin Arndt
Cécile Dupaquier
Charlotte Posenenske
Franziska Reinbothe
Michael Reiter
Gerwald Rockenschaub
Willy de Sauter
Rob Scholte
Martina Wolf

Die aktuelle Ausstellung in der Galerie Mehdi Chouakri, Berlin (2), setzt die Ausstellung in der Galerie Sofie van der Velde, Antwerpen (1), fort und findet anschließend noch einmal in der Galerie Thomas Rehbein, Köln (3) statt. Die Wanderausstellung zeigt dieselben Künstler/innen mit den gleichen oder auch anderen Exponaten. Neu in der Ausstellung ist der Belgische Künstler Willy de Sauter.
The actual show is a continuation of the exhibition in the gallery Sofie van de Velde, Antwerp and will take place once more in the gallery Thomas Rehbein, Cologne. The touring exhibition shows the same or different exhibits of the same artists. Only Willy de Sauter from Belgium is new in the show.

Mehdi Chouakri
Fasanenplatz

CURATOR: Burkhard Brunn, Frankfurt am Main

VERNISSAGE: 12. Januar 2018, 18 – 20 Uhr

Fasanenplatz (Fasanenstraße 61), 10719 Berlin
+49 (0)30 28 39 11 53
galerie@mehdi-chouakri.com
http://www.mehdi-chouakri.com

13. Januar – 23. Februar 2018
Öffnungszeiten: Dienstag – Samstag, 11–18 Uhr
Opening Hours: Tuesday – Saturday, 11 am – 6 pm

Backstage: die Rückseite. Der „Barberinische Faun“ in der Münchener Glyptothek hat eine raue Rückseite, denn er schloss ursprünglich an eine Gartenmauer an. Er schläft und ist vermutlich betrunken. Zwischen seinen breit gespreizten Beinen lässt er ohne Scham sein Gemächt sehen. Im 19. Jahrhundert führte der Wärter die Damen an der schockierenden Schauseite vorbei zur Rückseite: dort, kaum sichtbar, lugt ein Schwänzchen hervor: Gottlob, er ist ein Tier! Die Schauseite eines Kunstwerks zaubert Illusionen (ein wohlgebauter Jüngling), die verdeckte Rückseite birgt die Wahrheit (ein Tier). An die unausweichliche Wahrheit mahnt auch die Figur der „Vanitas“ am Straßburger Münster: vorn eine schöne Frau, aber der Rücken ein Nest von Würmern – ein drastisches Symbol der Vergänglichkeit. Im Theater heißt das, was hinter der Bühne vorgeht,
„backstage“. Dort – vor dem Publikum verborgen – befinden sich die technischen Vorrichtungen, die vorn das Schauspiel ermöglichen. Es sind die nicht-ästhetischen Arbeitsbedingungen. Auf der Bühne die bezaubernde Diva, backstage der unordentliche Schminktisch etc. Das Centre Pompidou hat keine Fassade, keine Schauseite. Man blickt direkt ins Gedärm und Gerippe von Renzo Pianos Gebäude: Rohre, Kabel, Verspannungen. Was man sieht, ist nicht die traditionell einem Gebäude vorgeblendete Maske, sondern das, was sie verdeckt: die Konstruktion. Vorn das brillante Produkt, hinten die Bedingungen und Spuren der Arbeit: bei Bildern der Keilrahmen, der Rahmen, die Aufhängung, Aufkleber, Angaben der Ausstellungsorte – die Rückseite, die der in Antwerpen geborenen Cornelius Gijsbrechts schon 1670 als Stillleben gemalt hat.
Zu unserer Ausstellung: Rob Scholte dreht auf dem Flohmarkt gefundene Stickbilder, die holländische Hausfrauen nach Vorlagen (Vermeer, Rembrandt u. a.) verfertigen, herum, signiert die Rückseite und stellt sie aus. Was man nun sieht, sind die heraushängenden Fäden, die von nah besehen, undefinierte Farbflecken bilden, doch aus gewisser Entfernung das Bild erkennen lassen – wie bei einem impressionistischen Gemälde. Charlotte Posenenskes Diagonale Faltung lässt die rückseitige Aufhängung sehen. Ihre stereometrischen Hohlkörper geben – im Gegensatz zur traditionellen Skulptur – Einblick auf die Innenseite. Cécile Dupaquier klappt einen Teil der Rückseite nach vorn. Auch Michael Reiters Objekte zeigen Vorderseite und Rückseite zugleich – ebenso die großen Schleifen in Kirstin Arndts Netzarbeit – erinnernd an das Möbius-Band, wo die Vorderseite zur Rückseite wird und umgekehrt. Franziska Reinbothe thematisiert die Bedingungen der Schauseite: Rahmen, Leinwand, Aufhängung. So wird die Rückseite Teil der Schauseite. Willy de Sauters Arbeit betont die rauen, normalerweise unter dem Rahmen verborgenen Seiten des Bildes. Gerwald Rockenschaubs Arbeit zeigt die große Schraube, mit der sie hinten an der Wand befestigt wird, unverschämt zentral auf der Vorderseite. In Martina Wolfs Videoarbeit dreht sich an einem Fensterriegel der an einem Faden herab baumelnde Pappdeckel eines fastfood-Behälters so, dass einmal seine schimmernde Aluminiumbeschichtung sichtbar ist – die Innenseite, auf der undeutlich der Raum hinter der Kamera erscheint, einmal seine stumpfe Vorderseite. Alle ausgestellten Arbeiten stehen in der Tradition der Aufklärung, insofern sie aufdecken, was sonst verborgen ist – das Gegenteil manieristischer Verrätselung.

Backstage: the rear side. The “Barberini Faun” in Munich’s Glyptothek has a coarse rear side, as originally it was joined to a garden wall. The faun is asleep and is presumably drunk. His legs are splayed apart and his genitals are displayed without shame. In the 19th century the museum attendant would guide ladies past the shocking front side to the rear: There, barely visible, a small tail protrudes. Thank heavens, it is an animal! The front of an artwork can conjure up illusions (a well-endowed young man), but the hidden rear side reveals the truth (an animal). Similarly, the “Vanitas” figure on Strasbourg Cathedral reminds us of the inevitable truth, for while the front shows a beautiful woman, the rear is a nest of worms – a dramatic symbol of transience. In the context of theater, we use the word ‘backstage’ to describe what happens behind the stage. It is here – hidden from public view – that we find the technical equipment that enables the play to take place on the stage. These are the non-aesthetic conditions for work. On the stage we have the entrancing diva, backstage the untidy dressing table, etc. The Centre Pompidou has no façade, no front side. You look directly into the insides of Renzo Piano’s building: pipes, cables, bracing. What you see is not the mask that traditionally fronts a building, but rather what it normally hides, namely the structure. In front – the brilliant product, behind – the conditions and traces of work: with pictures the stretchers, the frame, the mounting, stickers, information on the exhibition venues – the rear, which Antwerp-born Cornelius Gijsbrechts painted as a still life as early as 1670.
For our exhibition: Rob Scholte uses embroidered pictures he found at flea markets, fashioned by Dutch housewives using patterns (Vermeer, Rembrandt and others). He turns them over, signs the back and exhibits them. What people now see are the threads hanging out, which close up look like undefined patches of color, but from a certain distance reveal the picture – as in an Impressionist painting. Charlotte Posenenske’s Diagonal Folding reveals the hanging used on the rear. Unlike traditional sculpture, the stereometric hollow bodies provide a view of the interior. Cécile Dupaquier folds part of the rear forwards. Similarly, Michael Reiter’s objects reveal both the front and rear sides at the same time, as do the large loops in Kirstin Arndt’s net. It recalls the Mobius strip, where the front becomes the rear and vice versa. Franziska Reinbothe addresses the conditions of the rear side: frame, canvas, mounting. In this manner the rear side becomes part of the front side. Willy de Sauter’s work stresses the rough sides of the picture normally hidden under the frame. Gerwald Rockenschaub’s work shows the large screw with which it is attached to the wall, unashamedly in the middle of the front. In Martina Wolf’s video work the cardboard lid of a fast-food container suspended on a thread from a window handle turns in such a manner that sometimes its shimmering aluminum coating is visible – the inside, on which the space behind the camera appears vaguely, and sometimes its dull front side. All the exhibited works follow in the tradition of enlightenment, in as far as they reveal what is otherwise hidden – the opposite of Mannerist enigma.

Die perfekte Täuschung. Das einzige Bild auf der Welt, das zwei Rückseiten hat, malte Cornelius Gijsbrechts im Jahre 1670. Der in Antwerpen geborene Künstler, dessen Geburts- und Todesjahr nicht bekannt sind, war ein brillanter Stilllebenmaler, der die Augentäuschung perfekt beherrschte. Das trompe-l’oeil war im 17. Jahrhundert ein Spaß: man stelle sich vor, dass Gijsbrecht’s Rückseitenbild in einer Galerie an der Wand lehnte und den neugierigen Kunstfreund dazu veranlasste, es umzudrehen. Verdutzt wird er ein zweites Mal mit einer Rückseite konfrontiert. Den Betrachter zu nasführen war schon in der Renaissance ein Vergnügen der Florentiner Patrizier, in deren Palazzií hier und dort die Architektur als Scheinarchitektur weitergeführt wurde. Genau genommen ist die gesamte perspektivische Malerei eine Augentäuschung, insofern sie auf der achen Leinwand eine Räumlichkeit vortäuscht, eine Illusion, die erst die moderne Malerei entschlossen zunichte machte. Die trompe-l’oeil-Malerei wird zu einer Zuspitzung der generellen Augentäuschung, wenn ihr Naturalismus den Betrachter dazu anstiftet, nicht nur zu betrachten, sondern aktiv zu werden: nämlich hinzu zu springen, um etwa ein (perfekt gemaltes) Glas, das aus dem Bilderrahmen zu fallen scheint, geistesgegenwärtig aufzufangen. Gijsbrechts war mit seinen, auf die düpierende Augentäuschung angelegten „Steckbrettern“ so berühmt geworden, dass er an den dänischen Hof berufen wurde. (Steckbretter sind Gestelle, die in den Hausgängen der niederländischen Bürgerhäuser in Augenhöhe angebracht waren, um dort allerlei Krimskrams auf die Schnelle abzulegen: einen Brief, die Brille, den Hausschlüssel usw., Gegenstände, die, um den verblüffenden Effekt hervor zu bringen, oft über den Bildrand hinaus gemalt waren.)
Fraglos ist es ein Affront, dem Betrachter die gänzlich leere Bildrückseite vor die Nase zu halten anstatt ihm mit einer Fülle köstlicher Leckereien den Mund wässrig zu machen, wie das bei den meisten Stillleben üblich war. Doch hat diese Unverschämtheit über den Spaß hinaus eine Tiefe darin, dass sie den Betrachter mit der Leere, d.h. mit dem Nichts konfrontiert.
Das Nichts aber ist nach abendländischem Verständnis der Tod. So gesehen ist Gijsbrechts Gemälde eine besonders raffinierte Version des in der Stilllebenmalerei häufig anzutreffenden memento mori – Motivs (sonst gewöhnlich eine verlöschende Kerze, ein umgefallenes Weinglas, eine faulende Frucht oder – überdeutlich – ein Totenschädel), das den Betrachter ermahnt, beim Genuss der irdischen Köstlichkeiten an das unausweichliche Ende zu denken. Gijsbrechts Gemälde steht in dieser Tradition.

The perfect illusion. The only painting in the world that has two reverse sides was painted by Cornelius Norbertus Gijsbrechts in 1670. Born in Antwerp, but whose year of birth and death are unknown, the artist was a brilliant painter of still lifes, who mastered the art of painting illusions perfectly. The 17th-century trompe-l’oeil was produced for fun – we can imagine how Gijsbrechts’ reverse-side painting leaned against a wall in a gallery and how, puzzled, a curious art enthusiast could not help but turn it around the other way, only to be confronted once again with a reverse side. As early as the Renaissance, Florentine patricians took much enjoyment in creating playful deception, and here and there they were continued in their palazzi as illusionist architecture. Strictly speaking, perspective painting as a whole is an illusion, as it feigns three-dimensionality on a at canvas, an illusion that only modern painting decisively shattered. Trompe-l’oeil painting becomes an exaggeration of general illusion when its naturalism moves the observer not only to observe, but also to take action – namely to rush up, say, to catch, with great presence of mind, a (perfectly painted) glass that appears to fall out of the picture frame. Indeed, Gijsbrechts became so famous for his “Steckbretter” generating such optical illusions that he was appointed to the Danish court. (Steckbretter are shelves affixed at eye-level in the entrances of Dutch townhouses used for quickly depositing odds and ends like letters, spectacles or keys, etc., objects that, in order to achieve the startling effect, were often painted beyond the painting’s edges.)
It is without doubt an affront to hold up to the observer the completely empty reverse of a picture rather than making his or her mouth water with a wealth of tasty delicacies, as was common with most still lifes. Yet going beyond the fun factor, this impudence has a certain depth in that it confronts the observer with emptiness, i.e. nothingness. Here however, we need to consider that according to Western thinking, nothingness is equivalent to death. Seen thus, Gijsbrechts’ painting is an especially sophisticated version of the memento mori motif frequently featured in still lifes (usually a candle whose flame is dying, a wine glass that has fallen over, a rotting piece of fruit or – all too obvious – a skull), which reminds the observer when enjoying these earthly delicacies to think of the inevitable end. Gijsbrechts’ painting follows in this tradition.

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Einladung BACKSTAGE: die Rückseite: the rear side (2), Galerie Mehdi Chouakri, Berlin